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Ein gewaltiger Sturm braute sich über der kleinen Stadt zusammen. Die dunklen Wolken hingen schwer am Himmel und warteten darauf sich endlich ergießen zu können, als Ciera die Treppen des Dreifamilienhauses herunter hetzte. Wie schon so oft verließ sie zu später Abendstunde die Wohnung ihrer Eltern und doch war es ein erstes Mal. Sonst war der geheime Ausbruch immer aus Zwecken der Feier, des Alkohols und des Spaßes geschehen. Doch heute war etwas anders, etwas Schwerwiegendes.
In exakt dem Moment, in dem ihr unbekleideter Fuß den Asphalt berührte, begann es wahrhaftig zu schütten und so sprintete Ciera barfuß und zielstrebig nach Norden. In Sekundenschnelle war ihr sonst so helles, blondes Haar, durchnässt und auch die Farbe war beträchtlich dunkler geworden.
Ciera rannte und rannte. Ihre Füße schmerzten durch die raue Oberfläche der unbefahrenen Straße und Tränen rannen über ihre Wangen. Das Licht eines Scheinwerfers erfasste sie und sie wich auf den Gehsteig aus.
Ihre Umgebung veränderte sich, aus den aneinander gereihten Häuserblocks wurden riesige Grundstücke, Ciera wollte gar nicht wissen, wie viel die imposanten Häuser darauf gekostet hatten. Zu dem immer stärker werdenden Regen gesellte sich auch noch ein tosender Wind, der sie nun, da sie sich auf ungeschützter Ebene befand, beim Rennen behinderte und sie ihr Tempo verringern musste.
Glücklicherweise war der Hafen und somit auch die Telefonzelle, in welcher sie ihr Ziel sah, nicht mehr weit entfernt und sie erreichte Beides im Laufschritt innerhalb der nächsten Minuten. Die rostigen Container und die wachsenden Pfützen waren das Erste, was sie durch das dämmrige Licht der Laternen erkennen konnte, dazu kamen die Schreie der Möwen, das Prasseln der Regentropfen und der wundervoll heimische Geruch nach Meer.
Die heruntergekommene Telefonzelle befand sich geschützt unter dem Vordach der verlassenen Hafenbar, die früher den Stammplatz ihres Vaters und dessen Freunde dargestellt hatte. Ciera flitzte dorthin, um dem unaufhörlichen Regen zu entkommen, der ihr die Kälte in die Knochen trieb und sie sich wünschen ließ, dass dieser verdammte Anruf nicht so ungeheuer wichtig war.
Mit zittrigen Fingern wählte die junge Frau die Tasten und hörte dem beruhigenden Lied der Warteschleife zu, das Rauschen der Wellen im Hintergrund.
„Arztpraxis Neusteiner, Sie sprechen mit Melanie Rieder, was kann ich für Sie tun?" Ciera presste den Hörer an ihr Ohr und beruhigte ihren Atem, während sie noch einmal sicher ging, dass das was sie im Stande war zu tun, wirklich das war, was sie wollte.
„Hallo, ich würde gerne Matt Sievers sprechen, wäre das möglich?" Glücklicherweise blieb ihr Kopf trotz der Situation kühl und sie konnte genug Willenskraft aufbringen, um höflich zu bleiben.
„Natürlich, ich leite sie weiter, gedulden Sie sich ein wenig." Die konnte gut reden, Geduld war nicht eine ihrer Stärken und es graute Ciera vor dem bevorstehenden Gespräch.
„Matt Sievers am Apparat, mit wem spreche ich?"
„Matt...leg bitte nicht auf, ich brauche deine Hilfe. Es ist dringend!", rief Ciera schnell, denn sie wollte nicht, dass er das Gespräch mit ihr schon wieder abwürgte. Das war auch der Grund wieso sie zur Telefonzelle gelaufen war, sobald er ihre Handynummer auf seinem Display sah, erlaubte er ihr es nämlich nicht einmal zu Wort zu kommen.
„Was willst du Ciera? Es gibt einen Grund wieso ich nicht mit dir reden will", meinte er genervt und seufzte auf. Sie ging ihre vorbereiteten Worte erneut im Kopf durch, Fehler konnte sie sich wirklich nicht mehr erlauben, vor allem nicht jetzt.
„Es hat nichts mit uns zu tun, ich weiß, dass du mich um Zeit für deine Entscheidung gebeten hast und die gewähre ich dir natürlich. Aber ich brauche deine Hilfe, ich habe Scheiße gebaut. Richtige Scheiße." Ciera setzte ihre ganze Hoffnung in diese Antwort und wenn er sie zerstören würde, hatte sie keine Person mehr, der sie hundertprozentig vertrauen konnte.
"Gut, ich komme. Aber unter einer Bedingung."
"Alles was du willst", unterbrach Ciera ihn, um ihm zu verdeutlichen, wie wichtig es ihr war, dass er ihr jetzt zur Seite stand.
"Danach lässt du mich so lange in Ruhe bis ich mich entscheide, dir eine zweite Chance zu geben. Ich verlange von dir, dass du mich nie wieder anrufst, bis ich dazu bereit bin. Selbst wenn ich niemals dazu bereit sein werde."
"Einverstanden, ich bin am alten Hafen, wie lange wirst du brauchen?"
"Gib mir zehn Minuten", meinte er noch zum Abschluss und legte auf. Erst jetzt erlaubte es Ciera sich, erleichtert nach Luft zu schnappen und vor Freude beinahe einen Luftsprung zu machen. Nur der Fakt, dass sie ein ernsthaftes Problem hatte, ließ sie auf dem Boden der Tatsachen bleiben.
Vorher, wo sie noch ein klares Ziel vor Augen gehabt hatte, war es möglich, das erst kürzlich Geschehene auszublenden und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, aber nun überwältigte sie das Gefühl der Schuld. Hatte sie richtig gehandelt? Ciera verließ sich immer auf ihre Intuition, aber nun bereute sie es, sich so schnell für das Abhauen entschieden zu haben ohne an die Konsequenzen ihrer Handlung gedacht zu denken.
Stöhnend rutsche sie an der Hauswand herunter und ließ sich auf die Knie fallen, beklemmende Angst übernahm das Gefühl der Schuld. Wäre sie am Unfallsort geblieben, wäre sie vielleicht noch mit einer Geldstrafe weggekommen, auch wenn sie versucht hatte, Matt telefonisch zu erreichen und nicht wirklich auf die Straße geachtet hatte, weswegen es erst zu dem Unfall kam.
Sie hatte nicht Fahrerflucht begehen wollen, Hilfsbereitschaft war immer die Eigenschaft gewesen, auf die sie am stolzesten war, aber ihr Gehirn hatte nicht schnell genug eingeschaltet und so hatte sie sich auf ihren Körper verlassen, unglücklicherweise, denn dieser hatte sie einfach nur weit weg gebracht.
Die Gischt spritzte ihr immer wieder Salzwasser ins Gesicht und selbst mit der kuscheligen Winterjacke, die sie trug, fror Ciera erbärmlich. Barfuß war das zwar nicht sonderlich verwunderlich, aber als sie ihre alten Schuhe auf dem Balkon verbrannt hatte, weil ihre Fußabdrücke am Tatort zu sehen waren, hatte sie jemanden rufen hören und mit der Panik, die sie spätestens ab dann gepackt hatte, war ihr Wortschatz auf das Wort 'fliehen' begrenzt worden.
Und nun saß Ciera zusammengekauert an einem alten Hafen und setzte ihre ganze Hoffnung in den Mann, den sie vor wenigen Wochen angeschrien hatte, auf Grund seines Fehlverhaltens seiner Mutter gegenüber. Er hatte erstaunlich aufgebracht erwidert, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und seitdem hatten die beiden kein einziges Wort mehr miteinander gesprochen, auch wenn Ciera dutzende Male versucht hatte sich bei ihm zu entschuldigen.
Matt war der Einzige, dem sie vertraute, dem sie ihr Leben ohne Zögern in die Hände legen würde und ihm erlauben würde damit alles zu tun, was er wolle. Auch wenn er sich nicht eingestehen wollte, dass sie noch Gefühle für ihn hatte, so war es doch so; sie liebte ihn noch.
Der Regen ließ nach und Ciera stand auf, um sich die verspannten Beine zu vertreten, sie lief zu dem kleinen Steg, der im Wasser auf und ab wippte und lauschte dem beruhigenden Geräusch der Wellen, wie sie an die Hafenmauer klatschten. Von einer Sekunde auf die Andere hatte sich ihr Leben von einem stolzen Gebilde zu einer geschrumpften, zusammengekauerten Gestalt entwickelt.
Was war sie nur für ein niederträchtiges Geschöpf, dass sie nach einem von ihr verschuldeten Unfall einfach floh. Noch dazu kam die Tatsache, dass es das Auto eines Bekannten gewesen war und sie nur die Entleiherin darstellte, die einen Haufen Geld zu Luft gefahren hatte.
Eine grauenvolle Idee keimte in Ciera auf, für dessen Ansatz sie sich schon maßlos schämte. Konnte sie von Matt verlangen unter Eid zu lügen, sie in Schutz zu nehmen? Dann stand es zwei gegen einen und niemand konnte ihr die Schuld des Unfalls andrehen, Rendall müsste dafür einstehen, denn es war sein Auto. Und wenn jemand auf ihr Straftatenpapier schauen würde, würde es blank sein, sie könnte immer noch ihren Traum ausleben.
Als ihr jedoch einfiel, wie ungeheuer sie sich hassen müsste, auch nur daran zu denken einem Unschuldigen die Last zu übertragen, unterwarf sie sich dem übermächtig hervorbrechenden Schuldgefühl.
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