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Während sie auf dem Boden kauerte und spannungsgeladen auf Matt wartete, verabscheute Ciera sich für ihre Gedanken.
Wie kam sie überhaupt auf die Idee? War sie schon so tief gesunken und so verzweifelt? Geduld war wie gesagt nicht eine ihrer Stärken und die Zeit die vom Anruf bis jetzt vergangen war kam ihr vor wie eine Ewigkeit.
Grundlos stand sie auf und öffnete die knarzende Tür zu der verlassenen Bar. Der Geruch von vermodertem Holz lag schwer in der Luft, der Gang erstreckte sich unbeleuchtet in seiner vollen Länge vor ihr.
Links die Tür zu der nunmehr unbenutzten Küche, rechts die rostigen Haken für die Jacken, Mützen und Schals.
Die bedenklich schaukelnden Lampen an der Decke hatten schon zu lange kein Licht mehr verstrahlt und den Dielenboden zierten Staubflocken und Spinnenweben. Jahrelang schon hatte keiner mehr das Haus betreten und wieso Ciera es nun tat, war ihr bisher unklar. Als Schutz vor Wind und Wetter vielleicht oder aus Neugierde, was man hier finden konnte.
Ihre unbekleideten Füße hinterließen Fußspuren zwischen dem Staub und der Boden knarzte mit jedem Schritt. Nun stand sie unter dem großen Holzbogen, der den imposanten Durchgang zu dem Gemeinschaftsraum bildete. Die Tische und Stühle waren mit weißen Laken bedeckt und aus einer Ritze am Boden krochen hunderte von Ameisen.
Probehalber versuchte sie den künstlich beleuchteten Kronenleuchter in der Mitte des Raumes anzuschalten und es funktionierte tatsächlich. Der helle Schimmer brachte noch einmal eine ganz andere Atmosphäre den Raum, wenn man den einst so beliebten Teil der Bar so sah, wie er tatsächlich ausgeschaut hatte, nur in totenstill. Sehnsucht erfüllte sie, als sie daran zurückdachte, wie sie als kleines Kind mit ihrem Vater hier hergekommen war und auf seinem Schoß gesessen hatte. Aber die Zeit, in der sie seine kleine Maus gewesen war, war schon lange vorbei. Nun war das einzige, was er von ihr verlangte, dass sie seinen Vorstellungen und denen der Gesellschaft entsprach und sich demnach verhielt. Hauptsache Ciera passte sich an und fiel nicht auf.
Einen kleinen Schritt nach dem anderen, näherte Ciera sich der kleinen Theke und zog an dem Griff der Schublade, welche sich nach einigen Gewaltversuchen mit einem Knarzen öffnete. Zum Vorschein kam eingestaubtes Besteck und Ciera angelte sich ein Messer heraus. Den perfekten Platz für ihr Vorhaben suchend, drehte sie sich einmal um die eigene Achse und der Balken, der die Zwischen-Etage stützte, fiel ihr ins Auge.
Als das Messer das Holz berührte und sie es mit unendlicher Vorsicht nach unten zog, fiel es ihr überraschend leicht präzise Linien zu zeichnen, wahrscheinlich, weil das Holz schon morsch und brüchig war. Viel Augenmaß und Akkuratesse später, trat Ciera einen Schritt zurück und betrachtete das eingeritzte Herz, welches die Namen Matt und Ciera würdevoll umrahmte und sowohl traurige als auch fröhliche Erinnerungen in ihr hervorrief.
Sie wusste nicht, wieso er sich nach dem einen Streit verschlossen hatte und erst recht nicht, wieso er sich nicht mit ihr aussprechen wollte, auch wenn sie es so oft angeboten hatte. Und trotz der mittlerweile Wochen, in denen Matt sie ignoriert hatte, waren ihre gemeinsamen Erlebnisse noch so präsent, als wären sie gestern geschehen. Am liebsten erinnerte sie sich an die Nacht, die sie zusammen in dem Baumhaus im örtlichen Wald verbracht hatten, die Nacht in der sie zusammen gelacht und geweint hatten. Ihre erste gemeinsame Nacht.
Früher musste sie immer lächeln, wenn sie ihn auch nur aus der Ferne sah, ihr Herz bekam Flügel, wenn Matt sie umarmte, einen Kuss auf die Stirn oder auf ihre Lippen presste. Mit ihm schwebte sie auf Wolke sieben, egal wie der Tagesablauf aussah. Und Ciera hatte gehofft, dass sie beide eine gemeinsame Zukunft hatten, zusammen die Welt bereisten, heirateten und Kinder bekamen. Die Hoffnung lebte noch in ihr, auch wenn sie mit jedem auf sich selbst gestellten Tag schrumpfte.
Auf einmal hörte Ciera ein Poltern und einen qualvollen Aufschrei und ihr Herz setzte aus. Ihr Körper setzte sich in Bewegung um zu fliehen, doch ihr Verstand wollte das Entgegengesetzte tun. Was wenn sich jemand verletzt hatte? Ciera musste doch helfen, sie fühlte sich verantwortlich und wollte zumindest nachsehen, ob etwas passiert war. Aber was wenn stattdessen draußen die Polizei stand, rechtzeitig um sie zu verhaften?
Ciera entschied sich für die intuitiv richtige Variante und rannte den Gang zurück, riss die Tür mit einem lauten Krachen auf und orientierte sich in der plötzlichen Dunkelheit. Auf den ersten Blick erkannte die junge Frau niemanden, also lief sie schnellen Schrittes den Platz ab, bis sie eine zusammengekauerte Person an einen der Container lehnen sah.
Sofort lenkte Ciera um und ging, nun nicht mehr mit der selben Sicherheit wie vorher, sehr dazu bemüht gemächlich auszusehen, zu der Gestalt. Geschockt stellte Ciera fest, dass sie die weibliche Person kannte, zwar nicht sonderlich gut, aber bei ihren vereinzelt vorgekommenen Gesprächen waren sie schon erfolgreich über den Smalltalk hinweggekommen.
Agnes, die ältere Dame vom Nachbarhaus, kauerte auf dem Boden und hielt sich den Kopf, als würde sie einen Migräneanfall erleiden.
„Hallo? Ist alles in Ordnung?", fragte Ciera besorgt und kniete sich mit steifen Gliedern vor Agnes hin.
Diese blieb still, also hob Ciera entschlossen den nach unten gesackten Kopf der Frau an und erkannte ihre qualvoll geschlossenen Augen, aus denen einzelne Tränen rannen.
Weiterhin war das plätschernde Geräusch des nachlassenden Regens das Einzige, das die Stille nicht unheimlich werden ließ. Bevor Ciera überhaupt den Gedanken an das Eingreifen fertig ausgeführt hatte, hatte Agnes das scharfkantige Messer schon über ihren Unterarm gezogen und seufzte wohlig auf, den Schmerz willkommen heißend.
Ciera schrie auf und presste ihre Hände auf die unübersehbar tiefe Wunde, um den Blutfluss zu stoppen. Doch Agnes war noch nicht fertig, sie hob das Messer erneut und setzte es an. Dieses Mal handelte Ciera geistesgegenwärtig und schnell genug und schlug das Schneidegerät weg, bevor es auf die Haut treffen konnte.
"Hör auf und rede erstmal mit mir. Was ist denn los?", rief sie aufgebracht und wusste, dass ihre Tonlage in der Situation alles andere als angebracht war, aber hier erforderte es härtere Maßnahmen. Die ältere Dame zuckte nicht einmal mit der Wimper und betrachtete stattdessen das Blut, welches unter Cieras Händen hervorquoll, mit quälender Langsamkeit Tropfen bildete und schließlich auf den kalten Asphalt perlte.
Ein Ruck ging durch Cieras Wahrnehmung als sie auf einmal von hinten gepackt und gewalttätig weggezogen wurde. Panik erfasste sie und ihr Herzschlag beschleunigte sich rapide. Wer war das und was wollte die Person von ihr? Sie strampelte und trat dem Angreifer auf den Fuß, um sich los zu kämpfen und Agnes aufzuhalten, die mit glasigen Augen schon wieder das Messer in der Hand hielt.
„Du wolltest mich doch sprechen. Dann mach es auch.", flüsterte ihr eine mehr als bekannte Stimme ins Ohr und sie erstarrte. Matt, er war gekommen. „Aber...", Cieras Versuch ihn auf Agnes Zustand aufmerksam zu machen, wurde von ihm unterbunden, indem er seine Lippen auf ihre legte. Ihr Herz machte einen Satz und sie schlang wie selbstverständlich ihre Beine um seine Hüfte, ohne noch einen Gedanken an Agnes zu verschwenden. Sie wollte das nicht, aber Matt nahm ihr die Fähigkeit zu denken, selbstständig zu handeln und zu atmen.
Als Ciera einen Schritt weitergehen wollte, löste er sich sofort von ihr und hielt beschwichtigend die Hände in die Höhe.
„Entschuldige, das war ein Ausrutscher."
Ihre Hoffnung, die sich wie ein Luftballon aufgebläht hatte, wurde mit einer Nadel, mit diesen Worten zerstochen und sie drehte sich leicht weg, damit er ihre aufkommenden Tränen nicht mitbekam.
„Jetzt hau raus, was hast du angestellt, dass du so dringend meine Hilfe brauchst", fügte er hinzu und Ciera seufzte willkürlich auf. Sie war nicht mehr richtig gestimmt, ihm alles anzuvertrauen, aber trotz dessen war er ihre einzige Chance auf Hilfe, also musste sie es wagen.
Aber erst musste sie sicherstellen, dass Agnes nicht noch mehr Dummheiten anstellte. Sie bedeutete Matt zu warten, lief zielstrebig zu der Mitte Vierzigjährigen und kniete sich vor ihr hin. Die Frau beobachtete nur stillschweigend alle Bewegungsabläufe von Cieras Seite aus.
„Hey. Es wird alles gut, ich weiß nicht was passiert ist, aber es wird alles gut, ich verspreche es. Es ist schon 21 Uhr, gehen Sie nach Hause und machen Sie sich einen ruhigen Abend, morgen ist bestimmt schon alles besser!"
Die wenigen Worte wirkten Wunder und tatsächlich stand Agnes auf und verschwand mit hängenden Schultern in der Dunkelheit, nicht bevor Ciera ihr das Messer abgenommen hatte.
„Wieso hast du sie angelogen?", fragte Matt misstrauisch mit gerunzelter Stirn. Ciera zuckte nur mit den Schultern, auch wenn sie genau wusste, wieso sie es getan hatte.
Matt kniff die Augen zusammen und kam zu einer Erkenntnis, das stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Du nutzt ihren Zustand für deinen Schutz aus. Was auch immer du getan hast, du weißt schon ganz genau, wie du damit klarkommst. Du schlaue, durchtriebene..."
Ciera widersprach nicht, sie stimmte aber auch nicht zu, Matt wusste, dass er recht hatte.
„Und jetzt sag mir zum Teufel nochmal, wieso du mich hier her bestellt hast", verlangte er und sie setzte an, um ihm alles zu erzählen. Sein klingelndes Telefon hielt sie allerdings davon ab und Matt verdrehte genervt die Augen.
„Schon wieder? Ich muss da jetzt drangehen, das scheint wichtig zu sein, tut mir leid." In Sekundenschnelle riss Ciera ihre Hand vor und tippte auf Lautsprecher. Wenn sie schon unterbrochen wurde, wollte sie wenigstens auch den Grund mitkriegen.
Matt lief mit dem Handy in der Hand zu der Telefonzelle um sich unterstellen zu können und sie folgte ihm widerwillig.
„Matt Sievers, mit wem spreche ich?"
„Weißt du eigentlich, wie ungünstig du deinen Zeitpunkt zum verfrühten Feierabend gewählt hast?! Wir haben einen Notfall und du gehst einfach nicht ans Handy, das kann doch verdammt nochmal nicht wahr sein!"
„Beruhige dich, was genau ist denn los?" Matts Stimme klang beunruhigt und auch Ciera überkam ein ungutes Gefühl.
„Unfall, ein Auto ist in das andere gefahren, beide haben Feuer gefangen und der bewusstlose Fahrer liegt mit Verbrennungen dritten Grades in unserer Praxis. Und du bist der einzige Arzt hier, der weiß, wie man damit umgeht, dein Partner ist auf Geschäftsreise, das weißt du doch!"
Die Panik in der Stimme des Mannes auf der anderen Seite des Gespräches konnte man beinahe riechen.
"Wieso wurde er denn nicht ins Krankenhaus gebracht?", fragte Matt verzweifelt und raufte such die Haare.
„Weil der Krankenwagen nicht durchkommt. Der Sturm hat Bäume ausgerissen und die Straße ist versperrt, also sind wir die einzige Hoffnung des Typen. Ich weiß, du verdienst auch deine Privatsphäre, aber das Leben eines Menschen geht vor. Beeil dich, tschüss, ich muss jetzt helfen."
„Stopp, eine Frage, wie sieht es mit dem anderen Fahrer aus?", fragte Ciera. Kurze Stille, dann kam die Antwort. „Fahrerflucht. Man weiß noch nicht, wer der Täter ist, aber die Polizei ist drauf und dran ihm auf die Spur zu kommen. War das jetzt alles, ich muss jetzt...", eine kurze Stille entstand, in der Matt und Ciera sich einen bedeutungsschweren Blick zuwarfen, dann sprach der Mann von vorhin wieder.
Und alles, was Ciera bisher verspürt hatte, die Angst, die Schuldgefühle, all das, kam nicht mal annähernd an den Gefühlstsunami heran, der bei den nächsten Worten in ihr heranwuchs und sie mit sich riss.
{1856 Wörter}
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