Kapitel 2 - Nachwehen
Das wutrote Gesicht des kräftigen Hünen Alejandro glüht wie eine unheilverkündende Warnleuchte und konkurriert ernsthaft mit seiner neonorangen Warnweste. Was wir getan habe, wird mir in diesem Moment bewusster denn je. In diesem Moment, in dem ich wie aus einer schützenden Blase der seichten Verwirrung heraustrete ins gleißend helle Bühnenlicht, in dem all meine Schandtaten gnadenlos ausgeleuchtet werden.
Bald haben wir die Anlegestelle erreicht. Mir graut vor dem Moment, unserem Einsatzleiter und Trainer gegenüberzutreten, fast schlimmer als vor dem Lotuskalmar, den wir Meter um Meter in der schweigenden Tiefe hinter uns zurücklassen. Und doch paddeln wir weiter, weiter, weiter. Auf unseren Untergang zu, denke ich mir still.
Wir haben unseren Auftrag nicht erfüllt. Nicht erfüllt? Wir sind kläglich gescheitert! Alles Geld, alle Zeit, die in unsere Ausbildung geflossen ist, war umsonst. Ganz zu schweigen von den Erwartungen der Crew, die wir aufs Übelste enttäuscht haben. Wir, die als beste Meerjäger für diesen Auftrag ausgewählt wurden. Ich mit meiner jahrelangen Trainingserfahrung und Alani mit ihrem jungen Alter und ihrem Temperament, wir beide, die dem Lotuskalmar hätten einheizen sollen.
Und was haben wir getan? Ich bin paralysiert da wie eine verdammte Strohpuppe durch das Wasser getrieben während Alani meine Harpune ins ewige Blau geworfen hat. Verhalten sich so echte Meerjäger? Ich hätte das Ruder in die Hand nehmen müssen, ich hätte Alani nicht vorgehen lassen dürfen. Ich hätte ihr die Harpune wegnehmen sollen. Wir sind eine bodenlose Enttäuschung, sogar viel mehr als das. Denn wir gefährden das Wohl der puertoricanischen Küstenbewohner, die dem Lotuskalmar im Falle eines Angriffs als erste zum Opfer fallen werden. Direkt nach der Crew, versteht sich.
Ich sollte Alani hassen. Sie hat die Mission gefährdet, doch meine eigene Verantwortung schieben ich damit nur beiseite. Sobald ich sie ansehe, ihre sonnengebräunte Haut, auf der die Wasserperlen schimmern, sobald ich ihr nasses schwarzes Haar betrachte, das ihr bis zu den Hüften fällt, verfliegt diese Wut auf sie. Ich möchte ihre Nähe suchen und sie gleichzeitig nur aus der Ferne bestaunen. Und doch drängt sich diese Stimme in den Vordergrund, die Alani verteufelt. Sie ist schuld. Ist sie das?
Ich stelle fest, dass diese Dinge, die mein logischer Verstand mir als Schwarz-Weiß-Film vor mein geistiges Auge spult, ins Leere laufen. Ist das wirklich noch meine Logik, meine Denkweise? Oder nicht viel eher antrainierte, leere Worte? Die Begegnung mit dem Tintenfisch hat mir etwas gegeben, das ich aus keinen hundert Lehrbüchern hätte ziehen können. Der Lotuskalmar ist nicht gefährlich. Es war alles nur gelogen.
Oder zumindest übertrieben. Darf ich mir darüber schon ein Urteil anmaßen? Ich denke darüber nach, was man mit den falschen Informationen bezwecken will. Die offensichtlich verdrehten Lehren, die uns vorgebetet werden. Meine Gedanken wandern in Richtung der Wale, die wegen ihres Öls gejagt und erlegt worden sind und es auch immer noch werden. Früher hatten die Menschen aus dem im Kopf der Kolosse befindlichen Walrat Kerzen gemacht. Was sollte mit dem Kadaver des Lotuskalmars geschehen?
Ich stelle fest, wie wenig ich doch über diesen Meerkoloss weiß - und das trotz der zahllosen Theoriestunden. Ich kenne nahezu alle Möglichkeiten, einen Lotuskalmar zu erlegen, weiß aber so gut wie nichts über seine körperliche Beschaffenheit, außer den ganzen Oberflächlichkeiten. Seine Haut ist wasserabweisend und er kann sich an Land schleppend mit seinen Tentakeln fortbewegen und auch ohne Wasser überleben, fasse ich in Gedanken zusammen, wobei mir einmal mehr bewusst wird, wie kümmerlich mein Wissen doch ist.
Ich drehe mich um und blicke dorthin, wo der Kalmar wieder in die sichere Wiege der Tiefe zurückgekehrt ist und schäme mich darüber, ihm mit so wenig Respekt begegnet zu sein. Das azurblaue Wasser glitzert unschuldig, als sei nie etwas passiert. Mir fallen tausend Worte ein, die ich gerne an den Kalmar gerichtet hätte, selbst wenn er mich nicht verstehen würde. Von dem Giganten ist nichts mehr zu sehen, die Wasseroberfläche ist still und glatt. Eitel spiegelt sich die Sonne darin.
Ich sehe wieder nach vorne, denn es hilft mir gerade alles nichts. Wie Steinfiguren verharren die Mitglieder der Crew an der Küste, deren Sand weiß und warm ist und blicken zu Alani und mir, die wie zwei Schiffbrüchige auf einer Nussschale angetrudelt kommen. Der Anblick unserer versteinerten Kollegen in ihren hellblauen T-Shirts erinnert mich an die Steinfiguren auf der Osterinsel. Genauso unbewegt stehen sie da, ihre Gesichter noch zu weit weg, zu unscharf, um etwas daraus zu lesen.
Nur das von Alejandro kann ich mir bildlich vorstellen. Das beinahe teigige ovale Gesicht, das von langen schwarzen Haaren umgeben ist, die in den zehn Jahren, die wir uns kennen, immer spärlicher und dünner geworden sind, während sein Körper die gegenteilige Entwicklung durchgemacht hatte. Die Augen, die in der Farbe von frisch aufgebrühtem Darjeeling glänzen, werden mich in der Luft zerreißen.
„Was sollen wir ihnen sagen?", fragt Alani. Sie sieht mich nicht an und paddelt einfach weiter. Ich halte inne und frage mich, ob sie den Kuss gerne zurücknehmen würde. Aus ihrer Stimmlage kann ich mir gar nichts erschließen. Und auf ihre Frage weiß ich keine Antwort, doch ich ahne, dass ich ihr wohl eine Antwort schulde.
„Die Harpunen waren defekt", versuche ich zu scherzen, doch ich schaffe es nicht einmal, ein Lächeln auf Alanis Gesicht zu malen. Unkrautartig wuchert die böse Vorahnung in meinen Gedärmen und vergiftet meinen Verstand. Nicht einmal mehr richtig denken kann ich. Von Angst und Furcht gehemmt.
Mein Kopf brütet eine Erklärung nach der nächsten aus, die ich Alejandro auftischen werde wie ein hundertjähriges Ei. Einen ähnlichen Fall hat es noch nie gegeben. Es war ja auch lange kein Lotuskalmar mehr erlegt worden. Lange Zeit war es nicht nötig gewesen, auf den Ozean hinaus zu fahren und sich des glitschig-glänzenden Körpers zu ermächtigen. Bei der Begegnung mit einem Lotuskalmar stirbt immer einer - entweder der Kalmar oder der Mensch, geht es mir durch den Kopf. Doch was, wenn diese Gleichung nicht aufgeht? Was, wenn es keinen von beiden trifft?
Am Steg werden wir von einigen Mitgliedern erwartet, deren Namen ich nicht einmal weiß. Scharfe Blicke treffen mich wie die Harpune, die den Tintenfisch hätte erlegen sollen, aber nur für kurze Momente, denn sie scheinen den direkten Blickkontakt zu vermeiden, als hätten sie Angst, dadurch kontaminiert zu werden. Schwerfällig wie ein nasser Sandsack schwinge ich mich aus dem Boot und reiche Alani die Hand. Sie zögert einen Moment, nimmt sie aber doch an. Es ist erstaunlich still am Strand, zumindest dafür, dass so viele Menschen hier herumlaufen. Unter den Blicken der anderen gehen wir auf Alejandro zu.
„Idiotenpack", presst der Hüne hervor, als wir uns in Hörweite befinden. Es ist ein alt bekanntes Gefühl, von ihm beleidigt zu werden. Mit seinen Meerjägern geht er nicht gerade zimperlich um. Seine Philosophie in Sachen Training steht dem eines Militärcamps wohl in nicht viel nach. Als Trainer ist er laut und unangenehm, bei einem Piña Colada beim Feierabend hingegen kann er auch Scherze machen.
Ich kenne sein Temperament und mache mir nie etwas aus seinem verbalisierten Frust. Aber jetzt und hier beginne ich zu frösteln. Es fühlt sich an wie eine aufziehende Erkältung, als sich mir die möglichen Szenarien aufdrängen. Die Ungewissheit macht mich fertig, saust heiß in mein Gesicht und lässt gleichzeitig meinen Körper erzittern. Ich frage mich, ob mein Kopf hochrot oder leichenblass ist, denn es scheint, als würde abwechselnd das Blut hineinschießen und wieder daraus weichen.
Ich versuche, Alanis Blick einzufangen, um daraus etwas schließen zu können, doch sie schaut mich nicht einmal an. Es scheint fast, als würde sie meinem Blick ausweichen wollen. In den giftigen Gefühlscocktail aus Furcht, vor dem was kommt und purer Verzweiflung mischt sich noch etwas anderes. Enttäuschung. Wohin hat sich der ewige Moment auf dem Wasser verflüchtigt? Wo ist er geblieben? Mir scheint, als hätte der Kuss niemals stattgefunden.
Während die anderen Crewmitglieder damit beschäftigt sind, das Boot an Land zu ziehen und es ihnen mehr schlecht als recht gelingt, zu ignorieren, prescht Alejandro voraus in sein provisorisches Büro. Im Grunde ist die ganze Station ein einziges Provisorium. Graue Container liegen wie die Bauklötze eines Riesenkindes auf dem Strand verstreut herum. Der, der dem Strand am nächsten ist, beherbergt das Büro des Einsatzleiters.
Wir treten ein. Hier ist es wunderbar klimatisiert, doch selbst ohne die monoton rauschende Klimaanlage wäre die Raumtemperatur bei unserem Eintreten um zehn Grad abgekühlt. Statt sich wie immer schwerfällig auf seinem Chefsessel plumpsen zu lassen bleibt Alejandro stehen. Seine stämmigen Arme stützt er auf dem überdimensionierten und von Papierstapeln zugebauten Schreibtisch ab und sieht erst Alani und dann mich an.
Keiner sagt etwas. Genau das ist seine Strategie. Er hat nie das erste, aber dafür immer das letzte Wort. Er schaute dich an, fixiert dich wie der Adler, darauf wartend, dass du das Wort ergreifst. Dich erklärst, dich rechtfertigst, nur um sich dann mit Anlauf auf dich zu stürzen. Ich bleibe still. Muss die Geschehnisse erst in meinem Kopf sortieren und mich dann für die Version entscheiden, die ich Alejandro auftischen werde. Doch Alani ergreift das Wort.
„Unser Boot wurde beschädigt", sagt sie und lässt den Satz im Raum stehen. Wie ein Teebeutel in einer Tasse heißem Wasser breitet sich der Geschmack ihrer Worte langsam aus.
„Und weiter? Ihr seid doch ins Wasser gegangen, oder nicht? Ihr hattet die Harpunen dabei, oder nicht?"
Alejandro hat sich an ihr festgebissen. Seine Augen funkeln, vieles von seiner Wut hält er jedoch noch zurück. Ich fühle mich unwohl, als wäre ich in der Nähe eines eruptierenden Vulkans. Das heiße Magma steigt schon nach oben und wenn die Lava austritt, dann rette sich wer kann. Doch Alani und ich sind hier festgebunden, wir können nicht fliehen. Wir sind der Wut dieses urmächtigen Naturereignisses vollkommen ausgeliefert.
„Ja, aber das Gift hat einfach keine Wirkung gezeigt", verteidigt sich Alani. Uns. Sie verteidigt uns beide, streng genommen. Alejandro wirkt erstaunt, weiß einen Moment lang nichts zu sagen. Er schaut mich an, tadelnd, weil ich wie ein stummer Fisch auf meinem Stuhl sitze. In seinen Augen kann ich nicht ablesen, ob er die Aussage für eine Lüge hält oder ob er in den spinnennetzumwobenen Windungen seiner Erinnerung nach dem Fall sucht, in dem dies eingetreten ist. Langsam richtet er sich auf.
„Gut. ich werde das überprüfen. Ich werde alles überprüfen lassen, denn gerade sieht es nicht besonders gut für euch aus", brummt er und bedeutet uns mit einem Kopfnicken, das Büro zu verlassen.
„Wie, was soll das heißen?", platzt es aus Alani heraus. Beunruhigt schaut sie mich an. Doch ich habe die Äußerung genauso wenig verstanden wie sie. Statt zu antworten lässt Alejandro mit einem dumpfen Schlag einen schweren Stapel Papiere mitten auf den Tisch fallen, greift sich einen Stift und beginnt demonstrativ damit, sich in seine Arbeit zu vertiefen.
„Ich verstehe schon", faucht Alani und erhebt sich mit einem Ruck von ihrem Stuhl, sodass dieser beinahe hintenüber kippt. Wir beide verlassen das Büro und gehen an den Strand. Als ich einen Blick durch das Fenster werfe, sehe ich, dass Alejandro uns hinterher schaut. Sowie er meinen Blick bemerkt, schaut er weg. Er bindet sich die Haare zusammen und stützt seinen bulligen Kopf mit der Hand ab.
Ich wende mich ab. Alani steuert auf unseren Lieblingsplatz, ein wenig abseits vom üblichen Getümmel zu. Dort steht ein großer, fast bläulicher dunkler Fels, auf dem wir gerne den Abend ausklingen lassen. Der Stein hat die Form einer Muschel und man kann gut auf ihm sitzen, weil er von dem Wasser beinahe glattgeschliffen ist. Wenn man die romantische Ausstrahlung dieses zauberhaften Platzes bedenkt, kann man gar nicht anders, als zu denken, dass Alani und ich ein Paar seien. Möglicherweise hatte die Aktion mit den Flossen noch einen anderen Hintergrund, geht es mir durch den Kopf.
Alani setzt sich im Schneidersitz auf den Stein und schaut mich an. Doch jetzt wirken ihre Augen undurchsichtig, versiegelt mit einem kleinen Vorhängeschloss wie ein geheimes Tagebuch. Man kann zwar den Umschlag sehen, aber nicht, was auf den Seiten geschrieben steht.
„Was hat das zu bedeuten? Es sieht nicht gut für uns aus?", fragt sie mich. Ich fahre mit dem Finger die unebenen Stellen am Stein nach. Manchmal sieht es so aus, als seien Formen darin versteckt. So wie andere Menschen in den Wolken Formen sehen, so sehe ich sie in dem Stein. Gerade fahre ich den Umriss eines Pferdes nach. Alani beobachtet mich ungeduldig dabei. Ich schulde ihr eine Antwort, doch ich weiß selbst nicht, woher ich sie holen soll.
„Hast du eine Drohne gesehen, irgendwo? Oder war an unserem Boot eine Kamera angebracht? Irgendwer muss irgendetwas gesehen haben", sinniere ich.
„Aber wir haben doch nichts falsch gemacht. Das verdammte Gift hat nicht gewirkt. Es war nicht unsere Schuld", faucht Alani mich an. Sie ist immer noch aufgewühlt, das merke ich ihr deutlich an.
„Wir haben die Sicherheitsvorschriften missachtet", sage ich und verzichte darauf, Paragraphen zu zitieren.
„Weil wir den Lotuskalmar nicht mit den bloßen Händen erwürgt haben?"
„Weil du die Harpune losgelassen hast. Kämpfen bis das letzte Mittel ausgeschöpft ist. Das haben wir nicht getan", sage ich und komme mir vor, als würde nicht ich diese Worte aussprechen. Es sind auch nicht meine. Es sind die Worte, die man uns in den Mund gelegt und in unsere Hirne gepflanzt hat.
„Das ist Schwachsinn. Das alles hier", Alani macht mit wutentbranntem Schwung eine ausholende Geste, „ist ein einziger, riesengroßer Schwachsinn. Du hast es doch selbst gesehen! Dieses Tier tut keinem Menschen etwas zuleide. Ich sehe überhaupt keine Notwendigkeit darin, es zu erlegen, nur weil das Lehrbuch es so sagt."
Ihre Worte beeindrucken mich, zugleich überraschen sie mich aber auch. Im Training war Alani immer die engagierteste, die mit hasserfülltem Glanz in den Augen mit der Harpune auf die Attrappe eines Kalmars gezielt hatte. Wenn sie in die Mitte des aus Hartgummi bestehenden Kopfes getroffen hatte, kringelte sich ein zorniges Lächeln auf ihrem Gesicht. Den Lotuskalmar hatte sie behandelt wie ihren Erzfeind, nun war er ihr Protegé geworden.
„Da gebe ich dir auch recht. Aber wir haben uns damit auf ganz dünnes Eis begeben und ich fürchte, wir werden darin einbrechen", sage ich.
„Du bist genauso ein Arschloch wie Alejandro", schreit sie mich plötzlich an und erhebt sich. Ich schaue zu ihr hoch.
„So meinte ich das gar nicht", versuche ich sie zu beruhigen, „ich bin auf deiner Seite. Aber Alejandro sieht das ganz anders. Er hasst den Lotuskalmar. Er hat eine persönliche Rechnung mit ihm offen."
Den letzten Satz wollte ich nicht sagen, aber jetzt ist er raus. Die Fragezeichen schwimmen in Alanis Augen und sie setzt sich wieder.
„Er hat eine persönliche Geschichte mit dem Lotuskalmar", raune ich ihr zu. Einen Moment lang schaut sie mich aus großen Augen an, dann weicht das Erstaunen wieder betonhartem Argwohn.
„Aber er hat kein Holzbein wie Captain Ahab", schnappt sie.
„Nein. Es geht auch nicht um ihn. Und auch nicht um diesen Lotuskalmar. Vor dreißig Jahren, als der letzte Kalmar an Land gegangen ist, hat er einen verheerenden Schaden angerichtet. Unter den zahlreichen Opfern waren auch Alejandros Eltern und alle seine drei Geschwister. Er war damals zwölf Jahre alt und hat auf einen Schlag alles verloren."
Ich lasse meine Worte wirken und sehe Alani an, wie sich ihre Gesichtszüge entspannen und eine weiche Milde wie ein Weichzeichner die Wogen ihrer Wut glättet. Verlegen fährt sie mit dem Finger die Linien in dem Stein nach, die ich vorhin berührt habe.
„Es tut mir leid für ihn", murmelt sie schließlich. „Aber wie kann er es dann verantworten, eine ganze Spezies auszurotten? Ich meine, es gibt doch genügend Tierarten, die Menschen angreifen, verletzen oder töten können. Mein Großvater war Farmer. Ich habe ihn nie kennengelernt, weil ein Bulle ihn auf die Hörner genommen hat."
Das hat Alani mir noch nicht erzählt. Ich frage mich, ob es ein gutes Zeichen ist, dass sie es erst jetzt erwähnt. Oder fasst sie erst in diesem Moment Vertrauen zu mir? Wir sitzen beide im selben Boot, das verbindet. Ich weiß einen Moment lang nicht, was ich dazu sagen soll, also schaue ich hinaus auf den Atlantik und lasse meine Gedanken um all das kreisen, was sich heute zugetragen hat. Niemand nähert sich uns beiden, als wären wir Aussätzige. Als könnten sich die anderen mit der schlimmen Krankheit anstecken.
„Dann wollen wir mal ...", sagt Alani und rutscht von dem Felsen. Wir machen uns auf in Richtung der Zimmer, da sehen wir von weitem eine Gruppe auf uns zu kommen. Anders als die Crewmitglieder tragen sie keine einfachen, hellblauen T-Shirts, sondern schwarze Poloshirts. Mir schwant Böses.
Je näher sie kommen, desto besser kann ich den Schriftzug entziffern, der mit weißem Faden auf den Brusttaschen gestickt ist. Security. Wie angewurzelt bleibe ich stehen, denn der Sympathikus, der aktivierende Part meines vegetativen Nervensystems, will meinen Beinen befehlen, die Flucht zu ergreifen. Der Verstand sagt nein. Der Verstand sagt, dass ich mir erst anhören soll, was los ist, weil es doch ganz anders kommen könnte, als ich denke. Der Verstand sagt, dass Wegrennen verdächtig ist. Zur Hölle mit dem Verstand!
Alani greift meinen Arm, als sie sieht, wie zielstrebig die drei Männer und zwei Frauen auf und zukommen. Warum gleich fünf von ihnen? Ich spüre die prasselnde Aufregung von Alanis Hand in meinen Arm übergehen und ahne, dass ihr Verstand ihr dasselbe eingeflüstert hat, wie mir, doch ihr Körper ist genau so dagegen, wie meiner.
„Bitte nicht ...", flüstert sie.
„Vielleicht ist es nicht so ...", gebe ich leise zurück.
Die fünf bleiben in einigen Metern Entfernung vor uns stehen. Eine Frau löst sich aus der Gruppe und tritt näher zu uns. Sie ist sehr klein, sicher nicht größer als ein zehnjähriges Mädchen, doch in ihrem Gesicht liegt ein aus Lebenserfahrung geschnitzter Ernst. Kalte, klar graue Augen mustern uns beide.
„Wir müssen euch mitnehmen", sagt sie schlicht verpackt in nüchtern-neutralem Befehlston. Sie weiß genau, wer wir sind, denn sie fragt nicht nach Namen. Wie zwei gezeichnete Schafe sind wir beide.
„Worum geht es?", fragt Alani. Mein Gesicht verzieht sich unwillkürlich zu einer Grimasse. Die Frau antwortet nicht, sondern taxiert uns weiterhin. Es ist keine Antwort nötig, denn alle Anwesenden wissen genau, worum es geht.
„Gegen euch beide wurde ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet. Ihr werdet in Gewahrsam genommen und ..."
„Was? Fahrlässige Tötung? Das könnt ihr doch nicht machen!", schreit Alani. Vor Schreck zucke ich zusammen und sehe sie entgeistert an. Die kleine Frau scheint wenig beeindruckt zu sein. Sie dreht sich um und signalisiert ihren Kollegen mit einer Geste, dass sie Hilfe benötigt. In schnellem Schritt schreitet die zweite, deutlich größere und kräftige Frau auf Alani zu und packt sie heftig am Arm.
„Ihr seid festgenommen und ihr werdet jetzt mitkommen. Ob ihr das freiwillig tut oder ob wir euch wegtragen müssen, das bestimmt ihr", zischt die kleine Frau. Alani schaut ihr einen Moment lang trotzig in die grauen Augen, dann reißt sie sich mit einem Ruck los und stößt dabei der anderen Frau den Ellbogen mit Schwung ins Gesicht. Ihr Kopf fliegt nach hinten und sie schwankt, wird aber von einem der Männer aufgefangen. Sofort stürzt sich die kleine Frau auf Alani.
Ich kann gar nicht so schnell sehen, wie sie ihren Arm auf dem Rücken verschränkt und Alani damit zum Schreien bringt. Wimmernd sinkt die schwarzhaarige Schöne in den Sand, den ich heute lange nicht so schön finde wie an den anderen Tagen. Die kleine Frau beugt sich zu ihr und flüstert ihr ins Ohr: „Versuch das ja nie wieder, verstanden?"
Als Alani nicht antwortet, verstärkt sie den Griff, doch Alani denkt gar nicht daran, etwas zu erwidern. Ich habe Respekt davor, wie zäh sie ist und verstehe jetzt mehr als je zuvor, warum man sie für die Mission ausgewählt hat. Ihre langen schwarzen Haare fallen ihr ins Gesicht und ich höre sie leise keuchen. Schließlich lässt die kleine Frau mit einem resignierten Seufzen locker. Ohne weiteren Widerstand lassen wir uns abführen.
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