Kapitel 8: Blumen - Teil 1
Meister Jhe brauchte Rin Verran nicht holen zu lassen. Der Junge kam alleine zur Steinplattform. Nicht mal in Begleitung seines Bruders. Auf seinem Gesicht war keine Angst zu erkennen, nur eine verbitterte Entschlossenheit. Meister Jhe umfasste die Peitsche in seiner Hand fester, versuchte, das Zittern in seinen Armen zu unterdrücken, als Rin Verran die Stufen hoch stieg und sich steif verbeugte
»Meister, es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe gestohlen und somit gegen den Kodex verstoßen. Ich habe Euch enttäuscht.«
Enttäuscht?, dachte Meister Jhe. Enttäuscht! Natürlich hast du mich enttäuscht! Ich habe dich als meinen Schüler genommen, um einen besseren Menschen aus dir zu machen! Um zu sicher zu gehen, dass du so wirst wie deine Mutter. Aber scheinbar hast du zu viel von Rin Baleron in dir. Selbst dein Aussehen...
Er konnte es nicht ertragen, jeden Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, jemanden vor sich sitzen zu sehen, der genauso aussah wie Rin Baleron in seiner Jugend. Bestimmt hatte er seinen Söhnen nichts von dem erzählt, was in der Vergangenheit passiert war. Jedenfalls kein Wort von der Auslöschung der Mehn-Gilde. Sonst hätten die beiden Brüder sofort gewusst, welche Geschichte er ihnen an ihrem ersten Tag erzählt hatte. Wenigstens sollte Rin Verran jetzt Bescheid wissen. Es war eine gute Idee gewesen, Zen Ramka das Buch aus dem obersten Stockwerk der Schriftensammlung holen zu lassen und es zufällig Bao Jenko zu lesen zu geben, mit dem die beiden Brüder befreundet waren.
»Knie nieder«, befahl Meister Jhe und wartete, bis Rin Verran vor ihm hockte. Der Junge machte sogar Anstalten, sein Hemd auszuziehen, aber er hielt ihn auf. »Nein. Behalte es an.«
Rin Verran nickte nur und ballte die Fäuste. Es kostete Meister Jhe einige Anstrengung, die Peitsche zu heben und sie schließlich auf den Rücken des Jungen niedersausen zu lassen. Er gab keinen Laut von sich, zuckte nur kurz zusammen, obwohl der Schmerz schon beachtlich sein musste. Meister Jhe zog die Augenbrauen zusammen. Wenigstens die Sturheit seiner Mutter hat er geerbt. Beim nächsten Schlag konnte er nicht hinsehen. Es kam ihm vor, als würde er Mehn Shia selbst weh tun, obwohl der Junge doch überhaupt nicht wie sie aussah. Aber er konnte, durfte auch nicht aufhören. Fünf Hiebe hatte er sich vorgenommen. Es mussten fünf Hiebe sein.
Beim dritten Schlag entwich Rin Verran ein schmerzhaftes Keuchen. Meister Jhe hielt kurz inne. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie bereits einige der Schüler aus ihren Häusern kamen und mit großen, ungläubigen Augen beobachteten, was auf der Plattform vor sich ging. Herz aus Stein, redete Meister Jhe sich ein. Herz aus Stein. Und führte den vierten Hieb aus.
Plötzlich hatte er das Gefühl, es wäre wieder wie damals, wie vor siebzehn Jahren, als er erfahren hatte, dass die Mehn-Gilde ausgelöscht worden war und Rin Baleron Mehn Shia mit zum Phönix-Hof genommen hatte. Seine Verzweiflung, sein Schmerz waren so groß gewesen. Er hatte sich gewünscht, quer durch die Territorien bis zum Wohnsitz der Rin-Gilde zu reisen und Rin Baleron zu einem Duell auf Leben und Tod herauszufordern. Wie sehr hatte er sich gewünscht, ihn leiden zu lassen für das, was er getan hatte. Aber sein Bruder hatte ihn aufgehalten. Die Jhe-Gilde war zu klein. Sie konnten keinen Krieg mit der Rin-Gilde riskieren, auch wenn sie als die besten Schwertkämpfer unter allen Erzwächtern galten. Und so vergrub er seinen Schmerz und seinen Zorn tief in sich. Hinter einer steinernen Mauer, die sein Herz fest umschloss. Nur ein Mal war sie bisher gebröckelt. Nur ein Mal. Und jetzt drohte sie, es wieder zu tun. Oder war sie bereits gebrochen?
»Meister Jhe!«
Auf einmal ergriff jemand ihn am Handgelenk und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Bewegung, die sein Arm ausführen wollte. Er wurde aus seinen rasenden Gedanken gerissen, zog die Augenbrauen zusammen und keuchte auf, als er die blutigen Striemen sah, die sich über Rin Verrans Rücken zogen. Trotz des Hemdes, das er anbehalten hatte. Der Junge hielt sich gerade noch so aufrecht, stöhnte aber vor Schmerzen und hatte die Finger in den Stoff seiner Kleidung gekrallt.
»Das reicht!«
Meister Jhes Gesicht verfinsterte sich. Er hatte die Fassung, die Kontrolle verloren. Sein Blick zuckte zu Zen Ramka, die ihn mit einer erstaunlichen Kraft aufgehalten hatte. Sie schaute ihn ernst und zugleich besorgt an.
»Es reicht«, wiederholte sie, diesmal ruhiger.
Meister Jhe riss sich von ihr los und wäre fast einen Schritt zurück gestolpert. Er spürte die entsetzten Augen der vielen Schüler auf sich. Wahrscheinlich hatte er soeben allen bestätigt, dass die Gerüchte über ihn stimmten. Dass er grausam und leicht zu verärgern war. Warum muss er auch so aussehen wie Rin Baleron?
»Bring ihn ins Krankenhaus«, sagte er an Zen Ramka gewandt, die Stimme vollständig unter Kontrolle. »Seine Wunden sollen versorgt werden. Das wird ihm eine Lehre sein.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich um und stieg die Stufen der Steinplattform hinunter. Die verängstigten Blicke der Schüler folgten ihm und auch Zen Ramka sah ihm besorgt hinterher. Es wird immer schlimmer, dachte sie, während sie sich neben Rin Verran hinhockte, der immer noch kniete. Die Augen fest zusammengekniffen, aber unter seinen Wimpern glitzerten Tränen und die Unterlippe hatte er sich blutig gebissen. Behutsam berührte sie ihn an der Schulter.
»Es ist vorbei«, sagte sie. »Komm, ich bringe dich ins Krankenhaus.«
Zen Ramka half ihm beim Aufstehen und stützte ihn den ganzen Weg bis zu dem Haus im hinteren Teil der Gämsen-Pagode. Sie fragte sich, wo sein Bruder Rin Raelin hin war. Eigentlich hätte er an Rin Verrans Seite sein müssen – bei dem, was die beiden gestern Nacht angestellt hatten – aber sie konnte sich vorstellen, dass er noch seinen Rausch ausschlief und einen höllischen Kater hatte. In einiger Entfernung sah sie den Schüler Mahr Xero, der sich gerade mit einem zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht abwandte.
Nicht nett, junger Mann, dachte Zen Ramka. Überhaupt nicht nett! Sie war dabei gewesen, als Mahr Xero mitten in der Nacht gekommen war und die Feiernden im Falkennest verpetzt hatte. Angeblich hatte er gesehen, wie entweder Rin Raelin oder Rin Verran sich zum Lagerhaus geschlichen und etwas von dort hatte mitgehen lassen. Sie verstand immer noch nicht, warum er das getan hatte. Es gab immer Feindschaften zwischen einigen der Schüler, aber dass sie so weit gingen, um dem anderen zu schaden, war selten.
Als Rin Verran auf die Liege gehoben wurde, brannte sein ganzer Rücken wie Feuer und er unterdrückte gerade noch so einen schmerzerfüllten Schrei. Zum Glück schaffte er es, sich auf den Bauch zu drehen. Die Tränen, die sein Sichtfeld verschwimmen ließen, waren ihm peinlich, aber er konnte nichts dagegen machen. Er hoffte einfach, dass keiner sie sehen würde.
»Männer vergießen Blut, keine Tränen«, hatte Rin Narema ihm einst gesagt, nachdem er von einem Baum gefallen und mit dem Knöchel umgeknickt war. »Selber Schuld. Jetzt hör auf zu weinen und geh zurück in dein Zimmer.« Er hatte sogar noch ihren genauen Tonfall im Ohr. Dieses leichte Zischen in ihrer Stimme, wenn sie verärgert war.
»Kümmere dich gut um ihn, ja?«, hörte er irgendwo hinter sich Zen Ramka, bevor Schritte und eine zuschlagende Tür andeuteten, dass sie gegangen war.
Rin Verran stöhnte vor Schmerzen auf und biss sich wieder auf die bereits blutige Unterlippe, als jemand sich an seinem Hemd zu schaffen machte, um es auszuziehen. Die Ränder der aufgerissenen Haut klebten jedoch am grünen Stoff fest und jede Bewegung zog und zerrte daran.
»Das sieht übel aus«, sagte eine Mädchenstimme. »Ich werde das Hemd wegschneiden müssen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.«
Rin Verran erstarrte. Warum kam die Stimme ihm so bekannt vor? Trotz der Schmerzen schaffte er es, seinen Kopf ein Stück zur Seite zu drehen, um das Mädchen zu sehen, das vor einem Schrank mit medizinischen Utensilien stand und einen Verband vorbereitete. Sie trug die Kleidung der Val-Gilde und ihre blonden Haare wurden von einem grünen Stoffband zusammengehalten.
Oh nein! Rin Verran vergrub sein Gesicht im Kissen, um die Röte zu verbergen, die in seine Wangen stieg. Warum ausgerechnet sie? Warum ausgerechnet jetzt?
»Sag Bescheid, wenn es weh tut«, hörte er sie sagen und spürte kurz darauf, wie die kalten Klingen einer Schere den Stoff seines Hemdes zerteilten. Als das Mädchen anfing, die zerschnittenen Stücke zu entfernen, krallte er sich mit den Händen in das Bettlaken, um keinen Laut von sich zu geben. Er wollte nicht schwach erscheinen. Auf keinen Fall! Es war schon schlimm genug, dass anscheinend jeder mittlerweile mitbekommen hatte, dass er von Meister Jhe ausgepeitscht worden war. Zehn Hiebe! Er hätte nicht gedacht, dass Meister Jhe wirklich so grausam zu ihm sein würde. Dabei war es nur Wein gewesen und nicht mal allzu viel! So eine Strafe hätte vielleicht jemand verdient, der die Schatzkammer der Val-Gilde ausrauben wollte, aber nicht er!
»Fertig«, meinte das Mädchen. »Ich trage jetzt noch etwas Medizin auf, damit die Striemen besser verheilen. Dann kommt der Verband. Dafür musst du dich gleich kurz aufsetzen, wenn es geht.«
Aufsetzen? Rin Verran fürchtete, sie könnte seine geröteten Augen sehen, aber welche Wahl hatte er schon? Als das Mädchen eine Flüssigkeit auf seine Wunden tropfen ließ, brannte es fast schlimmer als zuvor und er konnte nicht verhindern, dass ihm ein schmerzerfülltes Keuchen entfuhr.
»Tut mir leid. Es ist gleich vorbei.« Pause. Ein letztes Brennen. »Jetzt kannst du dich aufsetzen. Komm, ich helfe dir.«
Es war ihm unglaublich peinlich, sich von einem Mädchen helfen zu lassen, aber zum ersten Mal konnte er ihre Hände direkt auf seiner Haut spüren. So weich und sanft. Ihre Finger waren lang und zierlich, streiften seine Schultern, als sie ihn umrundete, um den Verband über seinen Rücken und um seine Brust zu wickeln. Sie schaute ihn nicht mal an, schien tief in ihre Arbeit vertieft zu sein. Erinnert sie sich überhaupt an mich?
»Am besten, du bleibst noch ein paar Tage hier«, sagte sie, als sie fertig war und einen festen Knoten gebunden hatte. Zum ersten Mal blickte sie ihm ins Gesicht und zeigte ihm ihre blaugrünen Augen. Ein schüchternes Lächeln lag auf ihren Lippen. »Damit deine Wunden gut verheilen können.«
»D-Danke«, krächzte Rin Verran und konnte es nicht fassen, dass seine Stimme ihn auf diese Weise verriet. Warum stotterte er? Das war ihm noch nie zuvor passiert!
»Nichts zu danken«, erwiderte das Mädchen. »Solange Feng Rahni weg ist, vertrete ich sie im Krankenhaus. Sie meint, ich bin mittlerweile fast so gut wie sie.«
»Wie heißt du?«, platzte Rin Verran heraus. Viel zu laut.
»Du kannst mich Arcalla nennen«, sagte das Mädchen.
»Verran«, antwortete er einsilbig. Er fürchtete, wieder mit dem Stottern anzufangen, wenn er längere Sätze formulierte und diese Blöße wollte er sich nicht geben. Abgesehen davon flatterte sein Herz wie verrückt. Ich darf sie bei ihrem Vornamen nennen! Sieht sie mich also als Freund?
»Rin Verran, ich weiß«, meinte Arcalla fröhlich. »Du bist einer der Schüler von Meister Jhe. Ich habe gesehen, wie er dich unbedingt als Schüler haben wollte.«
Sie hat mich gesehen? Vor einem Jahr schon? Und sie erinnert sich daran? Sie erinnert sich an mich? Er spürte, wie sein Herz anfing, immer schneller zu schlagen und hoffte, dass sie es nicht hörte. Gleichzeitig bekam er eine leichte Panik, weil Arcalla ihn ansah, als würde sie eine Antwort von ihm erwarten, aber sein Kopf war wie leer gefegt.
»Wer ist dein Meister?«, brachte er schließlich hervor. Eigentlich wusste er, dass es Meisterin Zha war, aber er wusste nicht, ob Arcalla es wusste, also war es wohl besser, er tat so, als wüsste er es nicht.
»Meisterin Zha«, antwortete sie und lachte kurz auf. »Ich dachte, das wüsstest du schon. Immerhin bist du schon ein Jahr hier.«
Verdammt. Jetzt denkt sie, ich bin dumm.
»Ruh dich aus. Ich muss jetzt leider los. Vielleicht sehen wir uns am Abend ja noch«, sagte Arcalla, bevor ihm etwas Geistreiches einfallen konnte, und war schon durch die Tür verschwunden.
Rin Verran seufzte schwer auf und hätte sich fast rückwärts aufs Bett fallen lassen, drehte sich jedoch im letzten Moment noch etwas um, sodass er nur auf der Seite landete. Trotzdem schoss ein heftiger Schmerz durch seinen Körper, bei dem er leise aufstöhnte. Womit habe ich das verdient?
»Er hat dich ja übel zugerichtet«, ertönte plötzlich eine Stimme und Rin Raelin trat in Begleitung von Bao Jenko ein. Letzterer schaute mit großen Augen auf die Verbände um Rin Verrans Oberkörper und das zerschnittene Hemd, das noch teilweise aus dem Mülleimer herausschaute.
»Jetzt haben wir den endgültigen Beweis, dass unser Meister uns einfach nicht leiden kann«, behauptete Rin Raelin mit wutverzerrtem Gesicht. Jedenfalls sah es für alle anderen so aus. In Wirklichkeit hatte er furchtbare Kopfschmerzen wegen der vergangenen Nacht. Er hielt sich nicht damit auf, seinem Bruder tröstende Worte zu spendieren, sondern reichte ihm direkt den Brief, den er gerade eben erst erhalten hatte. »Jadna hat uns geschrieben. Sie ist wieder Zuhause.«
Rin Verran nahm das Schriftstück entgegen. Das Siegel war schon gebrochen, weil Rin Raelin die Nachricht seiner Schwester schon gelesen hatte. Es tat gut, endlich wieder etwas von Rin Jadna zu hören. Er hatte sie drei Jahre lang nicht gesehen und wusste nur aus Briefen, die sie manchmal an den Phönix-Hof geschickt hatte, wie es ihr ging. Im letzten Jahr hatte es jedoch keine Nachrichten gegeben, weil sie in den Territorien verschiedener Gilden unterwegs gewesen war, um sich selbst zu finden. Das war die Aufgabe, die einem im letzten Jahr bei der Val-Gilde bevorstand. Einige blieben zwar bei der Gämsen-Pagode, aber die meisten zogen hinaus, um anderen zu helfen oder einfach nur Abenteuer zu erleben, Lebenserfahrung zu sammeln. Anscheinend war Rin Jadna ein Jahr lang mit einer wandernden Musikantin unterwegs gewesen, von der sie das Flötenspiel gelernt hatte, und sah darin auch ihre eigene Bestimmung. Rin Verran lächelte bei den letzten Zeilen des Briefs. Seine Schwester war schon immer eine Träumerin gewesen. Er reichte den Brief mit einem dankbaren Nicken an Rin Raelin zurück.
»Die Ergebnisse sind übrigens noch nicht draußen«, sagte dieser. »Das wird wohl auch noch eine Weile dauern, aber wir werden dir auf jeden Fall Bescheid sagen.«
Sofort schlug Bao Jenko die Hände über dem Kopf zusammen. »Lasst uns bitte nicht über die Prüfung reden!«
»Über was dann?«, fragte Rin Raelin unzufrieden. »Darüber, wie unfair Rin Verrans Bestrafung war? Da gibt es nicht viel zu bereden. Das ist ein Fakt.« Er hielt sich zwei Finger an die schmerzende Stirn. »Diese beschissenen Kopfschmerzen. Ich glaube, ich muss mich wieder hinlegen. Tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung«, meinte Rin Verran.
»Wir überlegen uns, wie wir uns an Mahr Xero rächen können«, sagte sein Bruder und klopfte Bao Jenko auf die Schulter. »Komm, du hast immer die besten Ideen und Pläne.«
»Was? Ich?« Der Junge riss erschrocken die Augen auf, ließ sich aber von Rin Raelin aus dem Krankenhaus führen. Er warf Rin Verran noch einen letzten entschuldigenden Blick zu, bevor die beiden durch die Tür verschwanden.
Es war schon Abend, als von draußen plötzlich laute Rufe ertönten. Rin Verran schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Fenster, um eine schreiende Gestalt zu sehen, die heftig hustend und spuckend aus dem Speisesaal in Richtung Garten rannte. Es war Mahr Xero. Ihm folgten einige Anhänger seiner Gilde. Rin Verran konnte nicht anders als zu grinsen. Was auch immer Rin Raelin und Bao Jenko gemacht hatten, es hatte eine erstaunlich befriedigende Wirkung.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Mahr Xero immer noch hustend und mit hochrotem Gesicht zum Speisesaal zurückkehrte. Seine ganze Kleidung war nass und die sonst struppigen Haare klebten ihm dicht am Kopf. »Wer auch immer das war!«, schrie er schon von Weitem. »Das wirst du mir büßen!«
Rin Verran wartete etwas, aber es passierte nichts weiter außer dass die Schüler nach und nach den Speisesaal verließen, um zurück in ihre Häuser zu gehen. Er selbst überlegte auch, sich schlafen zu legen, obwohl er leicht enttäuscht war, dass Arcalla nicht zurückgekehrt war. Gerade versuchte er, eine möglichst bequeme Position zu finden, als die Tür sich plötzlich öffnete. Ein betörender Duft stieg ihm in die Nase, bei dem sein Magen anfing zu knurren. Neugierig geworden setzte er sich auf und konnte sich ein glückliches Lächeln nicht verkneifen.
Arcalla war in das Krankenhaus gekommen und schlug die Tür hinter sich mit einem Fußtritt zu, während sie ein Tablett mit mehreren Tellern und Schüsseln auf ihren Händen balancierte. Dann drehte sie sich zu ihm um.
»Ich dachte, du hättest vielleicht Hunger«, erklärte sie und übergab ihm das Tablett. Darauf befanden sich Köstlichkeiten, die er im Speisesaal zwar ab und zu gesehen hatte, die aber auch sehr schnell von den anderen Schülern vor seiner Nase mitgenommen wurden. Besonders gut dufteten die mit Fleisch gefüllten Teigtaschen, von denen Arcalla ihm eine ganze Schüssel mitgebracht hatte.
»Danke!« Rin Verran war etwas überwältigt von der plötzlichen Überraschung und konnte keine anderen Worte finden.
»Ich wäre auch früher gekommen, aber Mahr Xero hat sich den Mund verbrannt«, sagte Arcalla mit einem bedauernden Unterton. Allerdings konnte Rin Verran nicht sagen, ob es daran lag, dass sie nicht früher gekommen war oder dass Mahr Xero offenbar einen kleinen Zwischenfall hatte.
»Was ist denn mit ihm passiert?«, fragte er möglichst unauffällig und steckte sich die erste Teigtasche in den Mund. Sie schmeckte köstlich. Noch besser als die, die er am Phönix-Hof manchmal gegessen hatte.
»Anscheinend hat jemand ihm Chilipulver über alle Gerichte und auf den Stuhl gestreut, als er nicht hingesehen hat«, erklärte Arcalla. »Es hat erst angefangen zu wirken, als er schon die Hälfte aufgegessen hatte. Dann ist er rausgerannt und in den Teich gesprungen, was aber auch nicht viel gebracht hat. Da hat er sich wohl wirklich jemandem zum Feind gemacht.« Sie sah ihn an und er fürchtete schon, sie würde ihn darauf ansprechen, aber sie fragte nur: »Schmeckt es?«
Rin Verran nickte begeistert.
»Ich habe alles selbst zubereitet«, sagte Arcalla fröhlich. »Freut mich, dass es dir gefällt.«
Selbst zubereitet? Ihm wurde warm in der Brust. Wirklich? Sie hat das alles nur für mich gemacht? Gleich darauf ohrfeigte er sich innerlich selbst. Das hat bestimmt nichts zu bedeuten. Sie ist einfach nur freundlich.
Schweigend aß er die restlichen Sachen auf, die sie ihm gebracht hatte und versuchte, jeden Geschmack genau in Erinnerung zu behalten. Als er fertig war, nahm Arcalla ihm mit einem Nicken das Tablett ab und wandte sich zum gehen.
Geh nicht!, schrie er innerlich, aber das konnte er natürlich nicht sagen. »Das Band!«, rief er stattdessen kurz bevor sie die Klinke runterdrücken konnte. Sie drehte sich wieder zu ihm um.
»Welches Band?«
»Das... grüne Band in deinen Haaren.« Er atmete tief durch. »Es sieht schön aus.«
Arcalla wirkte überrascht und lächelte dann. »Danke. Grün ist meine Lieblingsfarbe.«
Grün? »Meine auch!«, sagte Rin Verran schnell.
Sie lächelte ihn ein letztes Mal an und wünschte ihm noch eine gute Nacht, bevor sie das Krankenhaus verließ. Rin Verran fluchte innerlich und schlug sich die Hände vors Gesicht. Konnte es noch schlimmer kommen? Was dachte sie jetzt nur von ihm? So unglaublich peinlich. Er hatte sich einfach nur lächerlich gemacht.
In der Nacht konnte er kaum schlafen, weil er keine bequeme Position finden konnte, in der sein Rücken nicht schmerzte. Als er aufwachte, hatte er das Gefühl, nur zwei Stunden seine Ruhe gehabt zu haben. Aber das war nicht schlimm. Nur einige Zeit später kam Arcalla wieder ins Krankenhaus, um seine Verbände zu wechseln. So sehr Rin Verran es aber auch versuchte, er konnte einfach kein Gesprächsthema finden. Mittlerweile musste sie bestimmt schon denken, er wäre der schüchternste, dümmste und verheulteste Junge, dem sie je begegnet war.
»Du hast da eine interessante Narbe«, sagte Arcalla auf einmal, als sie seinen neuen Verband zuknotete. Ihre Finger deuteten auf die feine Linie an seiner linken Seite, die eigentlich kaum zu sehen war. Bei der Beinahe-Berührung wurde Rin Verran plötzlich ganz warm und auch bei dem Gedanken daran, dass sie etwas an ihm offenbar interessant fand.
»Die habe ich schon seit meiner Geburt«, erklärte er. Dieses Mal sogar ohne zu stottern oder sich auf sonstige Art zu blamieren.
»Seit deiner Geburt? Das glaube ich dir nicht! Niemand wird mit Narben geboren! Die bekommt man erst später. Durch Verletzungen.«
»Aber ich habe sie wirklich seit meiner Geburt!«, sagte Rin Verran schon leicht verzweifelt. Wird sie mich jetzt für einen Lügner halten? »Sie war schon immer da.«
»Dann hast du sie vielleicht bekommen, als du ein kleines Kind warst und kannst dich nur nicht dran erinnern«, behauptete Arcalla. »Jedenfalls scheint die Wunde ziemlich gut verheilt zu sein.«
Rin Verran grinste. »Bestimmt nicht so gut wie wenn du sie geheilt hättest.«
Arcalla lachte herzhaft. »Danke für das Kompliment, aber du weißt ja noch gar nicht, ob ich deine Striemen auf dem Rücken überhaupt gut genug behandle!« Auf einmal wurde sie wieder ernst. »Deswegen wird Feng Rahni mich ab morgen ablösen. Sie hat mehr Erfahrung und ich werde mich sowieso darauf vorbereiten müssen, die Gämsen-Pagode zu verlassen. Mein drittes Jahr hier bricht an.«
Wo Rin Verran erst vor Glück und Freude fast auf die Füße gesprungen wäre – sie hatte über einen seiner Witze gelacht und sein Kompliment angenommen –, senkten sich seine Mundwinkel sofort in Enttäuschung, als er den zweiten Teil hörte. Sie geht weg? Jetzt schon? Aber...
»Dann wünsche ich dir viel Erfolg und hoffe, dass du deine Bestimmung findest«, presste er auf irgendeine Weise doch noch hervor.
»Danke. Und dir viel Erfolg beim zweiten Jahr. Aber der Kampf mit verschiedenen Waffen sollte dir eigentlich keine Schwierigkeiten bereiten.«
Das waren die letzten Worte, die Arcalla ihm sagte, bevor sie verschwand. Für Rin Verran fühlte es sich an, als hätte er einen Teil seines Herzens, von dem er vorher gar nicht gewusst hatte, dass er existierte, mit ihr verloren. Es gab keine Teigtaschen mit Fleisch mehr, keine sanften Hände, die ihm die Verbände wechselten. Stattdessen waren es die groben Finger der Heilerin Feng Rahni, die seine Striemen versorgten. Manchmal kamen Rin Raelin und Bao Jenko ihn besuchen und berichteten von ihrem kleinen Rachefeldzug gegen Mahr Xero, der mittlerweile nicht nur aus Chili im Essen, sondern auch aus Mücken im Zimmer und Juckpulver im Bett bestand. Zwar wussten mittlerweile einige Schüler, wer dahinter steckte, aber sie hielten den Mund, weil ziemlich viele seine vorlaute Art nicht ausstehen konnten. Mahr Xero selbst schien ebenfalls zu vermuten, wer seine Feinde waren, doch er hatte keine Beweise, konnte also nichts tun.
An dem Tag, an dem Rin Verran das Krankenhaus endlich wieder verlassen konnte, kamen auch die Ergebnisse der Prüfung raus. Wie erwartet hatte Bao Jenko sich viel zu viele Sorgen gemacht, denn er war unter allen Schülern auf dem zweiten Platz gelandet. Die höchste Punktzahl hatte, zum Erstaunen aller, Wrun Lilath erreicht, die eigentlich gar nicht so viel gelernt und mehr Zeit mit Ghan Idos und seinen Freunden verbracht hatte. Der dritte Platz ging an einen Anhänger der Mahr-Gilde, den irgendwie niemand kannte. Rin Verran fand seinen Namen nur drei Plätze dahinter. Im Gegensatz zu ihm hatte Rin Raelin Pech gehabt. Seine Punktzahl war niedriger als der Durchschnitt, aber er schwor mittlerweile fast jeden Tag, dass er im zweiten Jahr garantiert der Beste sein würde.
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