XVII. Schwere Worte
Berlin-Schöneberg, 1995.
Und dann war alles ganz schnell gegangen. So schnell, dass Alex sich gefühlt hatte, als sei sie die statische Konstante inmitten eines Wirbelsturms, der um sie herum wütete. Festgeklebt auf dem Boden, während alles um sie herum sich veränderte. Zum Guten? Das würde sich zeigen. Und obwohl alles auf einmal so plötzlich passierte, sodass sie kaum Zeit zum Nachdenken hatte oder für irgendetwas, fühlte es sich irgendwie richtig an. Auch, wenn sie gerade in diesem Haus hockte, das sie vor Kurzem fluchtartig verlassen hatte.
Liebe Edith,
Alex stockte. Sie hatte so lange auf diesen Zeitpunkt hingearbeitet und jetzt, wo er gekommen war, kam es ihr doch so surreal und unerreichbar vor. Obwohl sie es tatsächlich geschafft hatte. Wobei geschafft das hier hieß: Alex hatte Gewissheit darüber, dass Edith tatsächlich lebte. Ein Schritt in einem langen Marathon.
Liebe Edith,
ich bin es. Deine Mama.
Nein, nein! Zwei kurze Sätze – und der zweite davon war nicht einmal ein vollständiger Satz – das klang so abgehackt und emotionslos. Alex strich das Geschriebene energisch durch, sodass der Kugelschreiber neben Tinte auch tiefe Furchen im Papier hinterließ. Zum Glück verfasste sie die Worte nicht direkt auf dem schönen Briefpapier; der Verschleiß wäre enorm. Also, nochmal.
Liebe Edith,
ich bin Alexandra Weinmann, deine Mama.
Wir kennen uns nicht
Nein! Wo stand Alex denn der Kopf? Sie warf den Stift beiseite, stützte erschöpft den Kopf auf ihren Händen ab und versuchte, sich zu sammeln. Mit leerem Blick schaute sie schließlich durch die Terrassentür nach draußen in den Garten. Das hier war schwieriger als gedacht. Und niemand konnte ihr helfen. Eugen war zur Beobachtung noch im Krankenhaus, doch er hatte von dort aus einige Hebel in Bewegung gesetzt, sodass ein Treffen mit Edith organisiert werden würde. Er hatte die Kontaktdaten der Adoptiveltern mit wenigen Anrufen herausgefunden und auch, dass Edith noch Edith hieß.
Das war nicht ganz selbstverständlich, denn immerhin kam es vor, dass die Adoptiveltern die Namen der Kinder änderten, besonders dann, wenn sie noch ganz klein waren. Viel hatte Alex durch Eugen noch nicht über ihre Tochter erfahren können, aber dieses kleine Detail hatte sie, warum auch immer, sehr beruhigt. Edith hieß noch Edith, sie trug den Namen, den Alex für sie ausgesucht hatte. Vielleicht war das ja ein gutes Omen ...?
Noch stand alles auf wackeligen Beinen und zwar deswegen: Was, wenn Alex' Tochter selbst keinen Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter wünschte? Oder was, wenn sich ihre ‚neue' Familie querstellen würde? Eugen hatte ihr zwar suggeriert, dass er einem Treffen zuversichtlich entgegen blickte – anders gesagt: dass er Himmel und Hölle in Bewegung setzen und sich über alle Hürden hinwegsetzen würde, damit ein solches zustande kommen könnte – aber wie würde es ablaufen? Alex säße ihrer Tochter – ihrer eigenen Tochter! – gegenüber wie einer Fremden. Edith war nun elf Jahre alt und hatte ihr ganzes bisheriges Leben in einer fremden Familie verbracht. Vielleicht wollte sie gar nicht von dort weg.
Der Gedanke war abscheulich. Ob die rothaarige Schwesternschülerin damals vor elf Jahren gewusst hatte, was passierte? Warum war sie weggegangen? Hatte man sie aus dem Raum geschickt? Und warum zum Teufel hatte man ausgerechnet Alex dazu auserkoren, ihr das Kind wegzunehmen? Was alles gewesen und passiert wäre, wenn Alex und Edith nicht diese schreckliche Trennung hätten durchmachen müssen, das konnte keiner sagen. Und obwohl es furchtbar wehtat, darüber nachzudenken, tat Alex es immer und immer wieder.
Wie ein Stromschlag fuhr es auf einmal durch ihren Körper. Was war, das zählte gerade nicht, sondern nur das, was sein könnte. Das, was noch in der Zukunft lag. Denn die Vergangenheit konnte sie nicht mehr ändern und auch Eugen nicht, doch sie hatte es in der Hand, wie sich ihr Leben verändern könnte. Sie schnappte sich den Stift, wie eine Ertrinkende nach einem Rettungsring griff, und schrieb und schrieb und schrieb.
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