2. Sogar Gretels Brotkrümel wären hilfreicher
Pochender Schmerz. Das war das Erste, das ich spürte, als ich mit flatterten Lidern zu mir kam. Winzige Steinchen bohrten sich in meine Handflächen, meine Knie und meine Unterarme. Ein recht frischer Geruch sorgte dafür, dass es in meiner Nase unangenehm juckte. Ich ächzte. Etwas feuchtes berührte meine Lippen, meine Wange und meine Stirn. Als ich versuchte zu schlucken, bemerkte ich einen eklig erdigen Geschmack in meinem Mund.
Was machten denn Steine in meinem Bett? Und wieso roch es so seltsam? Hatte meine Mutter mal wieder versucht das Haus ‚blumiger' zu gestalten? Außerdem: Wieso tut mir alles weh?
Blinzelnd öffnete ich meine Augen. Ich musste nicht einmal warten, bis ich richtig sehen konnte, um zu kapieren, dass ich zu hundert Prozent nicht zuhause, geschweige denn in meinem Bett war. Aber wo, in Gottes Namen, war ich dann?
Benommen hob ich meinen Kopf - und bereue diese Aktion augenblicklich, als mich Schmerz wie ein Blitz durchzuckte. Stöhnend ließ ich meinen Kopf zurück auf die Erde sinken. Erde! Oh nein, dann war das, was ich da geschmeckt hatte tatsächlich... Igitt!
Angeekelt fuhr ich mir mit der genauso dreckigen Hand über die Zunge, bis mir klar wurde, dass mir das, außer den Schmerzen, die ich bei jeder Bewegung verspürte, nichts weiter brachte. Meine gute Erziehung über Bord werfend spuckte ich auf den Boden, um den ekligen Geschmack und die Erde loszuwerden. Meine Kehle fühlte sich ganz ausgetrocknet an.
Kurz blieb ich liegen und versuchte mich so gut wie möglich zu sammeln. Bloß keine Panik! Denn sonst war ich verloren, soviel war klar.
Verdammt, wie kam ich hier her? Die ganze Situation war mir mehr als suspekt. Der Wind rauschte drohend durch die Bäume und Sträucher, die mich umgaben. Oh nein! Bäume und Sträucher? War ich etwa in einem Wald? Fluchend wollte ich mich aufsetzen, doch der Schmerz überwältigte mich. Allein der Versuch mich zu bewegen fühlte sich so an, als würden meine Knochen bersten und die Muskeln sich alle verkrampfen.
Ergeben blieb ich liegen. Es roch frisch im Wald, so als hätte es gerade erst geregnet. Die Steinchen bohren sich noch immer in meine ungeschützten Körperstellen. Ich konnte mir gar nicht ausmalen, wie sehr mein Rock wohl ruiniert war. Mir war aber auch klar, dass dies wohl mein geringstes Problem war.
Ich war in einem verdammten Wald!
Vorsichtig rieb ich mir über die Stirn, auch wenn mein Arm unangenehm zog. Was hatte ich hier zu suchen? Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich hier hergekommen war.
Aber es musste doch irgendwelche Anhaltspunkte geben!
Da die langsame Bewegung vorher nicht ganz so schmerzhaft gewesen war, beschloss ich, dass ich mich vielleicht langsam erheben konnte, ohne gleich wieder, wie zuvor, zusammenzubrechen. Bedacht legte ich meine Handflächen auf den Waldboden, bevor ich mich zögernd hochdrückte. Meine Arme drohten zwar einzuknicken, doch mit mehr Körperbeherrschung, als ich mir in meinen kühnsten Träumen zugetraut hätte, gelang es mir, mich aufzusetzen.
Benommen schwankte ich, es kostete mir einiges an Mühe, nicht gleich wieder umzufallen, obwohl ich noch nicht einmal stand.
Bedächtig blickte ich mich um, sog meine Umgebung in mir auf. Doch nichts, von der jungen Kiefer, die gleich neben mir wuchs über den Waldweg, auf dem ich gelegen hatte, bis zu dem Haselnussstrauch auf der anderen Seite des Wegs, kam mir auch nur ansatzweise bekannt vor.
Sonnenstrahlen brachen durch das dichte Laub des Waldes, der mich umgab und malten helle Sprenkel auf den Weg und den Waldboden. Plötzlich bemerkte ich ein Glitzern gar nicht weit von mir entfernt und sofort blickte ich in die Richtung. Wieder blitzte etwas, ein Gegenstand, hell auf.
Behutsam, um meine schmerzenden Glieder zu schonen, griff ich nach dem silbernen Gegenstand. Eine Halskette!
In dem Moment, als ich sie erkannte, flammte die Erinnerung in meinem Kopf auf. Ich war gefallen! Aber wie...? Das konnte doch gar nicht sein! Das hier musste in Traum sein! Oder vielleicht auch ein schlechter Scherz? Wollte Sofia sich so dafür rächen, dass ich ihr ihre Kette weggenommen hatte?
„Sofia! Das ist nicht lustig! Komm her!", rief ich und wusste schon im nächsten Augenblick, dass ich keine Antwort erhalten würde. Niemals hätte meine Schwester ihre Kette so achtlos neben mir liegen gelassen.
Also musste es stimmen. Ich war durch ein Loch gefallen. Aber wo war ich dann nun? War ich vielleicht tot? Nein, der Himmel sah sicher anders aus. Oder aber es war die Hölle, vielleicht auch das Fegefeuer. Das wiederum ergab leider Sinn. Verflixt, ich war wohl tatsächlich tot.
Glücklicherweise war auch diese Erklärung, wenn ich genauer darüber nachdachte, recht unsinnig. Wieso sollte die Halskette hier bei mir sein, wenn ich tot wäre? Und wieso sollte jegliches Jenseits aus einem Wald bestehen?
Da ich nicht wirklich weiter wusste, beschloss ich, erst einmal die Halskette näher in Augenschein zu nehmen. Vorsichtig ließ ich die silberne Kette in meiner Hand baumeln und betrachtete dabei den ebenfalls silbernen Anhänger. Er bestand aus einer Schwertlilie, die von einem mit verschnörkelten Zeichen versehenen Herz umschlossen wurde. Vorsichtig berührte ich den Anhänger, sodass er sich langsam im Kreis drehte. Dies war also die Kette, die Sofia wie einen Schatz hütete. Nun ja, so besonders sah sie jetzt ja nicht wirklich aus.
Schulterzuckend legte ich mir die Halskette um den Hals, wobei meine Arme ziemlich schmerzten, was ich aber geflissentlich ignorierte. Wie meine Mutter immer sagte: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Auch wenn ich kein Indianer war und ich auch keinen kannte, baute mich dieses Sprichwort irgendwie auf.
Da ich nicht ewig hier auf dem Waldboden sitzen konnte und es wohl besser war, wenn ich in nächster Zeit ein Lebenszeichen an diesem Ort fand, machte ich mich daran langsam aufzustehen. Wenn ich so darüber nachdachte, war das wirklich die beste Lösung. Ich musste einfach einen Menschen finden und ihn fragen, wo ich mich befand. Problem gelöst. Dann würde ich nämlich bestimmt irgendwie nach Hause kommen.
Sorgsam winkelte ich erst das eine Bein an, stütze mich darauf ab und erhob mich so. Schwankend stand ich dort, mitten in dem unbekannten Wald und wäre beinahe umgekippt, wenn ich mich nicht an der Fichte, die gleich neben mir wuchs, festgehalten hätte.
Eine ganze Weile klammerte ich mich an den Baum, wie an eine Rettungsleine. Doch die Fichte konnte mich nicht retten. Das konnte ich, wie es aussah nur alleine. Und so begann ich schließlich langsam ein Bein vor das andere zu setzen. Auf gutes Glück hin beschloss ich, einfach dem Waldweg zu folgen. Wo Wege waren mussten schließlich irgendwann Menschen erscheinen.
Trotzdem hätte ich mich sehr nach einem Anhaltspunkt gesehnt. Irgendetwas, das mir versicherte, dass ich auf dem richtigen Weg war. Sogar Brotkrümel wie in Hänsel und Gretel von den Brüdern Grimm wären mir ganz recht gewesen! Aber davon fand ich hier weit und breit nichts. Wie denn auch? Ich war ja schließlich - wenn meine Theorie auch nur ansatzweise stimmte - hier her gefallen!
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