Das Versprechen
Sie war zu Hause. Ihr eigenes Zimmer, so wie sie es in jüngerer Erinnerung hatte. Wobei, es stimmte nicht ganz. Es herrschte noch ein gewisses Durcheinander hier, wie zu der Zeit, als sie es noch regelmäßig bewohnt hatte. Ihr Schreibtisch war voll mit Datenpads und Notizen für ihre Schularbeiten, doch über dem Stuhl hing die Jacke ihrer Kampfausrüstung. Bei dem Anblick wusste sie genau, welcher Tag war. Sie hatte ihren Kampfanzug ab diesem Zeitpunkt immer in der Akademie aufbewahren lassen, doch an diesem Tag nicht.
Denn dies war der Tag, an dem sie die Verbrecher besiegt und die Kinder gerettet hatte. Der Tag, an dem sie sich einen Namen gemacht hatte.
„Pinch" sah zu Whitmore, ob diese Erkenntnis irgendeine Reaktion auslöste. Immerhin war die Begegnung zwischen ihnen beiden ziemlich schmerzhaft für ihn ausgegangen. Doch dann erinnerte sie sich: Er war nicht der echte Whitmore. Eine Projektion – warum auch immer sie dafür diesen Kerl genommen hatten, den abstoßendsten Mann, dem sie jemals begegnet war. Doch diese Gestalt nahm keinerlei Kenntnis von dem Zeitpunkt oder dem Ort, an dem sie sich befanden. Was auch ganz gut war – der Anblick von Whitmore in ihrem eigenen Zimmer erschien ihr wie ein Albtraum, der wahr zu werden schien.
Dann ging die Tür auf, und sie sah sich selbst eintreten.
„Pinch" musterte ihre jüngere Version gründlich. Natürlich nahm ihr junges Ich sie überhaupt nicht wahr; sie ging zu dem Schreibtisch, setzte sich auf den Stuhl und fing an, mit dem üblichen Fleiß ihre Schulaufgaben zu erledigen. Wobei sie sich erinnern konnte, dass es ihr an diesem Tag besonders schwer fiel, sich zu konzentrieren. Und das nicht nur wegen der Ereignisse zuvor...
Es klopfte leicht am Türrahmen, und ihre Mutter blickte herein. „Liebes?", fragte sie vorsichtig. Als Vera – ihr junges Ich, obwohl sie sich damals schon selbst „Pinch" nannte – aufblickte und ihrer Mutter mit einem Lächeln zu verstehen gab, dass sie eintreten konnte, tat Helen es auch. Aber ihr Gesicht war zerfurcht vor Sorge. „Wir müssen reden."
„Pinch" erschauerte beim Klang dieser Worte. Das tat auch ihr jüngeres Ich. „Was ist los?"
Helen trat vollständig in den Raum und zog sich den Stuhl heran, der normalerweise neben dem Bett stand. Sie setzte sich darauf und sah ihrer Tochter tief in die Augen. „Du weißt, dass ich dich wirklich lieb habe, oder?", fing sie dann an.
„Ja...", antwortete Vera, zog das Wort aber in die Länge. Sie war sich nicht sicher, worauf ihre Mutter hinaus wollte, aber es konnte nichts Gutes sein.
„Und dass ich mir wirklich Sorgen um dich gemacht habe, als du letzte Nacht einfach aus der Akademie verschwunden bist." In all den Jahren, die „Pinch" ihre Mutter kannte, hatte sie niemals eine solche Schärfe in ihrer Stimme gehört wie in diesem Moment. Doch dieser Moment ging auch vorbei – es war klar, dass Helen darum bemüht war, ihre Beherrschung zu behalten.
„Ich habe doch schon gesagt, dass es mir Leid tut", rechtfertigte Vera sich. „Hast du denn die Blumen nicht bekommen?"
Helen schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um die Blumen. Dein Vater hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt, richtig?" Sie seufzte. „Hör mal, es mag sein, dass du glaubst, das Richtige getan zu haben. Und es mag sein, dass Paps dir da zustimmt. Aber..." Es fiel ihr schwer, weiter zu sprechen. „Pinch" begriff, dass es gegen die Natur ihrer Mutter ging, die eigene Tochter so zurecht zu weisen. Klar, wenn sie etwas falsch gemacht oder Dummes angestellt hatte, wurde sie auch mal ausgeschimpft, auf eine zurückhaltende, aber dennoch spürbare Weise. Doch jetzt, wo sie dieses Gespräch zum zweiten Mal erlebte, merkte sie erst, wie aufgebracht Helen Lippson über die ganze Sache war.
So aufgebracht, dass ihr in diesem Augenblick die Tränen in die Augen schossen. Und das tat „Pinch" weit mehr weh als alle Schimpfe, die sie jemals bekommen hatte. Ihr junges Ich dachte genauso. „Ach, Mama!", rief sie und nahm Helen in den Arm, um sie zu trösten. Beide umarmten sich für lange Zeit, während Helen leise schluchzte. Am liebsten hätte „Pinch" sich dem angeschlossen. Sie streckte die Hand nach vorne aus, um Helen an der Schulter zu berühren. Natürlich ging ihre Hand ungehindert hindurch. Dennoch behielt sie diese Haltung bei – zumindest im Geist wollte sie etwas Trost spenden.
„Ich habe mir so furchtbare Sorgen gemacht", erklärte Helen unter leisen Schluchzern. „Und dabei hatte dein Vater mir nicht einmal erklärt, wie gefährlich das war, was du getan hast. Ich habe es erst hinterher erfahren."
„Ich musste es tun", erklärte Vera leise und schniefte. Auch ihr kamen bereits die Tränen. „Es tut mir so leid, aber ich konnte wirklich nicht anders."
Helen löste sich aus der Umarmung und wischte sich verstohlen mit einem Ärmel über das Gesicht. „Weißt du, dein Vater hat das auch immer gesagt. Genau das. Dass er keine Wahl hatte und all diese gefährlichen Aufträge erledigen musste, die ihm gegeben wurden. Das hat er mir jahrelang gesagt."
Vera sah ihrer Mutter ernst ins Gesicht. „Und jetzt endlich verstehe ich ihn. Ich weiß, warum er das gesagt hat. Weil er in der Lage ist, das Schlimmste zu verhindern und sich für diejenigen einzusetzen, die Hilfe brauchen."
„Er hat es aber nie verstanden", entgegnete Helen traurig. „Ich hoffe, dass du es zumindest verstehst. Was es für mich bedeuten würde. Weißt du, was das Schlimmste für mich wäre? Mein einziges Kind zu verlieren." Diese Direktheit überraschte Vera, und entsetzt sah sie ihre Mutter an.
„Du verlierst mich nicht, Mama", beeilte sie sich ihr zu versichern. Aber das überzeugte Helen nicht.
„Ich habe es deinem Vater gesagt, und ich hatte gehofft, dass ich es dir niemals sagen müsste. Aber nun ist es soweit. Du musst eines verstehen, Vera: Du musst das niemals tun. Niemand zwingt dich dazu. Du kannst ein glückliches, sicheres Leben hier führen. Du kannst deinem Vater und den anderen an der Akademie helfen, so wie du es schon vorher getan hast." Plötzlich ergriff sie Veras Hand, hielt sie fest, um ihre nächsten Worte zu unterstreichen. „Aber ich bitte dich... ich flehe dich an... Versprich mir, dass du niemals wieder so etwas machst! Dass du dich nie wieder in derartige Gefahr begibst. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich das noch einmal mit dir durchmachen müsste."
Vera antwortete nicht sofort. Und als „Pinch" ihr Gesicht sah, wusste sie von ihrer eigenen Erinnerung, was ihr gerade durch den Kopf ging. All diese Abenteuer, nach denen sie sich immer gesehnt hatte; all das Gute, das sie tun konnte, wenn sie erst einmal diese öde Farm hinter sich gelassen hatte... Sie hatte endlich bewiesen, wozu sie fähig war, hatte es mit drei gefährlichen Kriminellen aufgenommen und war daraus siegreich hervorgegangen. Sie konnte nicht einfach in ein ruhiges, beschauliches und langweiliges Leben zurückgehen, wie sie es früher einmal geführt hatte.
Doch all das war in diesem Moment unwichtig. Denn alles, was Vera vor sich hatte, war das tränennasse und sorgenvolle Gesicht ihrer Mutter – einer Mutter, die wirklich alles für sie getan und alles geopfert hatte, um für sie da zu sein. Eine Mutter, die sie über alles liebte und deren Herz brechen würde, sollte ihr jemals etwas zustoßen. Und genau wie sie vorher keine Wahl gehabt hatte, als sie losgezogen war, um ihre Freunde zu retten... so hatte sie auch in diesem Moment keine andere Wahl. Darum antwortete sie: „Ich verspreche es."
Die Freude und Erleichterung in Helens Gesicht war grenzenlos, und erneut fiel sie ihrer Tochter um den Hals. „Pinch" beobachtete dies... sich wohl bewusst, dass sie gerade Whitmores ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. Besonders, als sie merkte, wie sich ihre Mundwinkel bei den Gedanken, die sie gerade beschäftigten, nach unten zogen.
Whitmore sprach aus, was sie gerade dachte: „Du hast dein Versprechen gebrochen."
Sie hatte es nicht vorgehabt. Sie hatte sich in dem Moment, in dem sie von ihrer Mutter umarmt wurde, fest vorgenommen, eine gute Tochter zu sein. Für ihre Familie da zu sein, alles zu tun, um diese Familie zu bewahren. Sie wollte auch für ihre Freunde da sein, an der Akademie und außerhalb. Sie erwog, die Akademie sogar zu verlassen und sich nach der Schule einen harmloseren Beruf auf dem Planeten zu suchen. All das, um das Versprechen zu halten, das sie ihrer Mutter gerade gegeben hatte.
Ein paar Wochen später hatte sie diese verschlüsselte Nachricht von den „Unicorn Riders" erhalten.
Sie wagte kaum, Whitmore ins Gesicht zu sehen. „Bist du Metaller?", fragte sie grollend. „Willst du mich jetzt bestrafen dafür, dass ich mein Wort gebrochen habe? Ist es das?"
Als er nicht antwortete, sah sie ihn doch an – herausfordernd und trotzig. Obwohl sie sich innerlich überhaupt nicht so fühlte. „Du hast es immer noch nicht begriffen", stellte er fest und schüttelte den Kopf. „All die Jahre, und du hast nichts gelernt. Dabei heißt es immer, du seiest klug."
„Verdammt, was willst du von mir?", brauste „Pinch" jetzt auf und stampfte wütend mit dem Fuß auf. Nicht, dass es viel brachte. Auch wenn der Fuß den Boden traf, er machte kein Geräusch. „Ich habe in den letzten Jahren viel Gutes und Richtiges getan. Ich bereue nichts davon. Meine Kameraden vertrauen mir. Warum sollte ich jetzt deswegen irgendwie ein schlechtes Gewissen haben?"
Whitmore wies wortlos auf ihre Mutter, die nun aufgestanden und zur Zimmertür gegangen war. Während sich Vera wieder an ihre Schularbeiten machte, bemerkte sie nicht, wie Helen sie ansah. Der Blick war voller Liebe und Mütterlichkeit, aber auch voller Sorge. Als könnte ihre größte Furcht, ihre einzige Tochter doch noch zu verlieren, von einem Moment zum anderen wahr werden. Der Moment, in dem sie Vera betrachtete, schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor sie das Zimmer endgültig verließ.
Doch während Vera an ihrem Schreibtisch nichts davon mitbekam, so sah „Pinch" an dieser Stelle doch alles sehr deutlich. „Ich hasse dich", zischte sie in Richtung Whitmore.
Keine Reaktion. Als sie sich zu ihm umdrehte, war Whitmore nicht mehr da. Lediglich Vera blickte von ihrem Schreibtisch auf.
Und sah ihr direkt in die Augen.
„Das war nicht nett", sagte ihr jüngeres Ich zu ihr.
Erschrocken sog „Pinch" die Luft ein... und öffnete die Augen. Das Zimmer war verschwunden. Ihr junges Ebenbild war verschwunden. Geshtachius war verschwunden. Sie stand in der Höhle, vollkommen allein, die Laserwaffe und ihre Lampe in den Händen haltend. So, als wäre nie etwas geschehen.
„Was zum...?"
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