10. Flucht vor den Schatten
In den vergangenen Stunden hatte sich vor Flatters Bau nichts gerührt, nicht einmal er selbst. Der leichte Nieselregen sprühte ihm über das Fell, kleine Tropfen setzten sich an seine Schnurrhaare und der Boden verwandelte sich langsam in rutschigen Schlamm. Das Herz schlug dem Jungen bis zum Hals, auch wenn er sich noch so sehr auf seinen Atem konzentrierte. Die Sorgen hockten ihm wie tiefer Nebel ihm Nacken und breiteten einen eisigen Schleier über ihm aus. Seit gestern war seine Mutter verschwunden, aufgebrochen zum Kampf gegen einen der Clans, welchen hatte Flatter vergessen. Er wusste nur, dass Schlick einige Katzen des Zweibeinerorts zusammengetrommelt hatte, und dass sie versprochen hatte, bald wieder da zu sein. Öfter war davon die Rede gewesen, einen Wiesenstreifen am Waldrand zu erobern um dort zu jagen, aber es war gewiss, dass sich die Clankatzen das Gebiet nicht einfach wegnehmen lassen würden.
Auch wenn Flatter sich Sorgen um seine Mutter machte, hoffte er inständig, dass sie das Territorium bekommen würde, denn er hatte es satt, in Mülltonnen zu wühlen. Im Winter war es im Zweibeinerort kalt und trostlos, die Zweibeiner wickelten sich in dicke Felle, versteckten ihre Köpfe und Hände darunter und marschierten zielstrebig, ohne den Blick den Lebewesen zuzuwenden, die in der kalten Zeit keinen warmen Platz zum Schlafen hatten, geschweige denn einen vollen Magen. Für eine Maus oder auch nur einen sehnigen Spatzen hätte der braune Kater alles gegeben.
Mit trübem Blick starrte Flatter noch eine Weile in den grauen Regenschleier, in der Hoffnung, die Silhouette seiner Mutter darin erkennen zu können, stand jedoch schließlich auf und schlich geduckt in den feuchten Bau zurück. Auf dem Boden bildeten sich bereits kleine Pfützen, von einem Loch in der Erde konnte man nicht viel Schutz erwarten. Oft hatte Flatter schon darüber nachgedacht, ein Hauskätzchen zu werden, aber seine Mutter verachtete die mit Halsbändern gezähmten Katzen, die meist nicht einmal mehr selbst jagten. Dem braunen Kater ging es jedoch nicht darum, nicht mehr jagen zu müssen, sondern endlich einmal satt schlafen gehen zu können. Seit Schlick aufgehört hatte, Milch zu geben, waren so viele schreckliche Dinge passiert. Zuerst waren sie im Bau zu sechst gewesen. Am Anfang des Winters nur noch vier. Dann drei. Jetzt nur noch zwei. Schlick und ihn.
Flatter zerriss es jedes Mal das Herz, wenn er an seine Brüder und Schwestern dachte. Das Leben war so ungerecht! Nur weil die Clankatzen den ganzen Wald für sich beanspruchten gab es kaum noch neutrale Gebiete für Streuner um zu jagen. Schlick war oft den ganzen Tag weg gewesen, um eine Maus zu fangen und es hatte einfach nicht gereicht.
Der kleine, braune Kater bohrte die Krallen in den aufgeweichten Boden, als er plötzlich draußen ein Geräusch vernahm. Pfotenschritte! So schnell wie er konnte, rappelte er sich auf, rutschte dabei fast im Schlamm aus und stürmte vor den Bau.
"Schlick!", jauchzte er und rannte der braunen Kätzin entgegen, die eilig durch den Regen hinkte. Ihr brauner Pelz war von dunklem Matsch verschmiert und sie sah unheimlich erschöpft aus. Eines ihrer schönen, spitzen Ohren war vollkommen abgerissen worden und ihre Augen wirkten trübe und blass.
"Da bist du ja mein Schatz. Ich bin so froh, dass es dir gut geht", krächzte Flatters Mutter und drückte den Kater in ihr verklebtes Brustfell. Er presste seine Nase fest hinein und sog ihren Duft ein.
"Ich dachte schon, du kommst nicht wieder", miaute Flatter mit leiser Stimme. Seine Mutter roch anders. Fremd. Unheimlich.
"Ich bin ja da, mein Schatz. Ich bin da", murmelte sie ihm ins Ohr, er erkannte, dass sie ihn beruhigen wollte, aber ihre Stimme wirkte hohl. Als würde sie lügen.
"Ihr habt nicht gewonnen, oder?", hauchte Flatter kaum hörbar in das Fell der dürren Kätzin. Je länger er sich an sie drückte, desto intensiver wurde der unheilverheißende Geruch...und da fiel es ihm plötzlich auf. Das war kein Schlamm, der im Pelz seiner Mutter klebte. Es war Blut. So viel Blut. "Mutter?" Flatter hörte, wie seine eigene Stimme höher und ängstlicher wurde, sein Nackenfell sträubte sich. Er sah die Wunde an ihrem Bauch. Wollte wegsehen, doch er konnte es nicht. Sie war wie eine unendliche, schwarz-rote, gezackte Schlucht, die sich über ihren Unterleib zog, vom Oberschenkel bis hinauf zu den Rippen.
Plötzlich sauste Schlicks verbliebenes Ohr nach hinten, sie riss den Kopf herum.
"Sie sind hier!" Flatter hörte Panik in ihrer Stimme.
"Wer? Die Clankatzen?" Trotz des Blutes drückte der kleine Kater sich enger an sie, er konnte ihre Angst über das Blut hinweg riechen.
"Nein. Du musst hier weg, Flatter. Sie wollen sich an mir rächen, weil ich sie in diese Schlacht geführt habe", miaute die Kätzin drängend und schubste Flatter weg von dem Bau, den er sein ganzes Leben lang sein Zuhause genannt hatte. Ein jämmerliches Zuhause vielleicht, aber sein Zuhause.
"Ich gehe ohne dich nirgendwo hin!", beschwerte er sich, spürte, wie der Boden unter ihm zu schwanken begann. Er durfte sie nicht verlieren. Nicht sie auch noch. Mit einem Mal befand er sich in der Luft, unter sich die humpelnden Pfoten seiner Mutter, die ihn so schnell forttrug, wie sie konnte, aber Flatter konnte hinter sich die Stimmen fremder Katzen hören. Und sie kamen näher.
"Hör mir zu, Flatter, mein Schatz", keuchte sie durch sein Nackenfell hindurch. "Es tut mir so leid, dass ich dich alleine lassen muss. Ich hätte diesen Kampf nie führen dürfen." Flatter vernahm, wie sich ein rasselndes Husten in ihrer Kehle anstaute als sie sprach, sie hatte kaum Luft um zu sprechen und knickte bei jedem zweiten Schritt mit den Pfoten um.
"Aber wo soll ich denn hin? Zu Leia?", fragte der braune Kater kummervoll. In seiner Brust zerbrach etwas. Wenn das Leben so war, wollte er es nicht mehr. Er kam mit dem Hinterteil zuerst auf, als Schlick stürzte, kullerte ein Stück davon, sein Pelz voller Regenwasser.
"Mutter!" Strauchelnd eilte er zu ihr zurück, aber sie stand nicht mehr auf. Die Stimmen der Katzen wurden lauter, wie ein herannahender Sturm. Kampflustig. Todbringend. "Bitte steh auf! W...Wir müssen weiter! Bitte!" jaulte Flatter verzweifelt und versuchte, seine Mutter hochzustemmen, doch es war zwecklos. "Bitte..." Das letzte Wort erstickte Flatter unter einem Schluchzen. "Du darfst nicht auch noch weggehen!"
Ächzend hob Schlick den Kopf und berührte seine Wange mit ihrer gespaltenen Nase.
"Es tut mir so leid, mein Sohn. Bitte glaub mir, wenn ich sage, dass ich das nicht gewollt habe. Ich wollte dich nicht auch noch verlieren." Schwach leckte sie ihm über die kleinen, spitzen Ohren. "Leia ist im Kampf gefallen. So viele Jungen haben ihre Mutter verloren in diesem Kampf", krächzte sie, ihr Kopf sank immer weiter herab und ihr Blick drohte immer wieder, ins Nichts zu rutschen. Flatters Brust zog sich so eng zusammen, dass er es nicht zu atmen vermochte. "Lauf, mein Sohn. Lauf zu den Clans. Bei ihnen wirst du in Sicherheit vor ihnen sein. Du wirst ein Nest haben und gefüttert werden. Sie werden dir beibringen, zu jagen und zu kämpfen."
"Aber...aber sie haben dich...", er brachte den Satz nicht zu Ende. Das Wort tat so weh.
Schlick schüttelte schwach den Kopf.
"Nicht der SumpfClan war das. Sondern die", hauchte die Kätzin und wandte den Blick zu den sich nähernden Silhouetten. Flatter erkannte die ersten wutverzerrten Fratzen, Angst schoss ihm unter die Haut.
"Lauf, Flatter!" Auf einmal versetzte Schlick ihm einen Schubs und rappelte sich doch noch auf, doch nur um sich der Meute entgegen zu stellen. Sie formte ihren drahtigen Körper zu einem Buckel und fauchte, aber die Katzen fielen über sie her, wie gnadenlose Raubtiere. Flatter konnte nicht hinsehen. Seine Sicht verschwamm, er wirbelte herum und rannte so schnell ihn seine Pfoten zu tragen vermochten.
"Hey, da ist ihr kleiner Bastard! Schnappt ihn euch!", jaulte eine Stimme hinter ihm, aber Flatter wagte es nicht, zurückzublicken. Zweige und tote Blätter schlugen ihm ins Gesicht, als er ins Unterholz sprang und weiterlief, die Augen voll Tränen. Wo vorher bohrender Hunger gewohnt hatte, war nun nichts anderes mehr als ein taubes Gefühl. Kälte, die sich langsam ausbreitete. Flatter rannte weiter und immer weiter, erlaubte sich keine Pause, obwohl niemand hinter ihm war, bis sich vor ihm der Anblick eines leuchtenden Sees öffnete. Er sah, wie sich das Licht der Sonne, die nur teilweise durch die Regenwolken linste, sich im klaren Wasser spiegelte und schöpfte verzweifelt Atem, seine Lungen brannten. Er konnte nicht mehr. Seine Pfoten knickten unter ihm weg, er erwartete sein Schicksal, egal welches es sein mochte. Leben oder Sterben. Es war ihm egal.
Er war zu erschöpft, zu zerbrochen um die zwei Katzen, eine Schildpattkätzin und einen golden gefleckten Kater zu erkennen, die ihn vom Waldrand aus gesehen hatten. Flatter schloss einfach die Augen und hoffte, dass er aufwachen und von seiner Familie umgeben sein könnte. Zu einer Zeit, in der die Schatten noch nicht in sein Leben getreten waren.
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