13. Ein Auge sieht besser als zwei
Rostpfotes ganzes Gesicht schien zu brennen, als er es endlich schaffte, sich von der beunruhigenden Dunkelheit loszureißen, die ihn im Schlaf gefangen hielt. Sein Fell fühlte sich verklebt und nass an, seine Ohren schmerzten, seine Pfoten, seine Flanken.
Was ist mit mir passiert?
Die Erinnerungen schienen verschwommen. Der orangefarbene Kater wusste noch, dass er dazu eingeteilt worden war, mit Reiherflügel in den Zweibeinerort zu gehen um wichtige Kräuter zu sammeln. Sie waren bei einem Bau über einen Wall gesprungen und der Heiler hatte begonnen, Pflanzen abzupflücken und dann...Rostpfote konnte die Erinnerung nicht genau greifen.
Er versuchte, seine Augen zu öffnen, doch nur eines gehorchte. Vor dem linken herrschte tiefe Dunkelheit, während das andere von dem Licht der Abenddämmerung empfangen wurde. Selbst das sanfte Leuchten der untergehenden Sonne bohrte sich wie ein glühender Dorn in seinen Kopf, als hätte er Monde in Dunkelheit verbracht.
Verwirrt blickte der orange getigerte Kater an sich herab. Seine Pfoten waren voll mit grüner Paste, die unzählige Kratzer bedeckte. Doch es hörte nicht mit seinen Beinen auf, die Schnitt- und Stichwunden zogen sich über seine Brust und seine linke Flanke hinfort. Alle waren sie mit Salben aus stinkenden Kräutern behandelt worden.
"Reiherflügel? Hallo?" Rostpfotes Stimme hörte sich lächerlich leise und zittrig an. Wieso erinnerte er sich nicht?
Plötzlich raschelte etwas links neben ihm und er riss den Kopf erschrocken herum, nur um vor Schmerz zusammenzuzucken.
"Reiherflügel!", miaute er erleichtert, als er den grauen Kater erkannte, der sich in seinem Nest eingerollt hatte. Die gelben Augen des Heilers blitzten besorgt auf, als er sich erhob.
"Du bist aufgewacht. Das ist gut", sagte er bedacht.
Rostpfote sah zu ihm hinauf.
"Was ist passiert?"
"Du erinnerst dich nicht?"
Der orangefarbene Kater schüttelte den Kopf. Es fühlte sich an, als würden ihm die Erinnerungen auf der Zunge liegen, aber er konnte sie nicht aussprechen. Alles kam ihm vor wie in Wolle gepackt.
Reiherflügel bedachte ihn erneut mit einem sorgenvollen Blick.
"Was ist das letzte, woran du dich erinnern kannst", fragte er, bevor er sich vor ihn setzte.
"Wir waren im Zweibeinerort", antwortete Rostpfote vage. Erinnern konnte er sich nur an den Wall auf den er gesprungen war. "Du wolltest Kräuter sammeln und ich sollte Wache halten und dir beim Tragen helfen."
"Richtig. Das war deine Aufgabe", miaute der graue Kater, sein Ton wurde etwas säuerlich. "Aber wie alle Aufgaben behandeltest du auch diese nicht mit dem gebührenden Ernst."
Rostpfote legte den Kopf schief, wobei ein dicker Verband um sein Ohr verrutschte.
"Was meinst du?"
Gebührender Ernst? Die meisten meiner Aufgaben sind todlangweilig. Ich will doch nur Spaß haben, während ich meine Ausbildung mache, dachte der orangefarbene Kater. Wollte Reiherflügel etwa andeuten, dass er selbst Schuld war?
"Ich meine damit, dass du diesen Bau schon viel zu oft besucht hast, weil du dich planlos in Gefahren stürzt. Ich werde dir sagen, was passiert ist. Wir waren in einem Garten der Zweibeiner und ich habe meine Arbeit erledigt, während du weder Wache gehalten, noch mit den Kräutern geholfen hast! Da sammle ich wertvolle Pflanzen ein, die dir in der Blattleere vielleicht das Leben retten, drehe mich um, und du bist weg!" Reiherflügel klang wütend. Und das nicht nur ein bisschen.
Rostpfote sah betreten drein. Je mehr der Heiler erzählte, desto klarer konnte er die Bilder in seinen Erinnnerungen sehen.
"Ich drehe mich also um und suche nach dem Schüler, der mir eigentlich helfen sollte und was macht besagter Schüler? Er springt kopflos auf Dingen herum, von denen er keine Ahnung hat, wie gefährlich sie sein können!"
"Ich wollte bloß auf einen höheren Aussichtspunkt, um Wache zu halten!", verteidigte sich der Schüler und es war immerhin nicht ganz gelogen. Von dem höheren Wall aus hätte er den ganzen Garten überblicken können...wenn er oben geblieben wäre.
"Rostpfote", warnte der Heiler ihm mit gesenkter Stimme. "Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Ich war dafür verantwortlich, dass du heil zurück kommst. Kannst du dir meinen Schrecken vorstellen, als ich gesehen habe, wie du abgestürzt bist?"
"Es tut mir leid!", beteuerte der jüngere Kater, er konnte sich kaum noch konzentrieren, weil sich ein dröhnender Kopfschmerz anbahnte. "Ich wollte nur-"
"Es ist egal, was du wolltest", unterbrach ihn der graue Heiler mit einem glühenden Blick. "Tatsache ist, dass du nicht gehorcht und dich in große Gefahr gebracht hast. Und das ist noch nicht einmal das schlimmste, denn du bringst auch Borkenpfote, Drosselpfote und Nebelpfote ständig in Schwierigkeiten. Musste es erst zu ernsten Konsequenzen kommen, bevor du endlich nachdenkst?"
"Ernste Konsequenzen?", echote Rostpfote. Er wusste nicht was der alte Heiler meinte, aber seine Worte erschraken ihn. War er etwa...? Nein, er konnte seine Hinterbeine bewegen, sein Schweif schien ebenfalls in Ordnung. "Ich verstehe nicht..."
Reiherflügel seufzte, als würde ihm das nun sehr schwer fallen.
"Rostpfote...dieser Wall war sehr hoch. Aber der Fall war nicht das, was dich hierhergebracht hat. Als ich gesehen habe, dass du abgerutscht bist, bin ich dir sofort nach un hätte mich dabei fast selbst verletzt. Du bist in ein Gewirr aus schrecklich spitzen Dornen gefallen, Rostpfote. Du warst blutverschmiert, vor allem im Gesicht. Ich habe Ewigkeiten gebraucht, bis ich dich überhaupt rausziehen konnte."
"Dornen? Aber Dornen können mich doch nicht so zurichten", wandte Rostpfote ein. Nein, er hatte schon öfter mit Dornengestrüppen Bekanntschaft gemacht. Keine Verletzung davon hatte sich danach so angefühlt, wie diese.
"Es waren keine normalen Dornen. Es war Zweibeinerzeug. Silbrig glänzende, auf einer silbernen Ranke aufgefädelte Dornen, so scharf, dass man sich bei einer leichten Berührung schon stechen konnte."
Rostpfote schluckte. Er erinnerte sich. Reiherflügel hatte Recht, sie waren unfassbar scharf gewesen. Er erinnerte sich, wie er gestürzt war, kopfüber von dem Wall herunter. Sein Blut, wie es auf die silbernen Ranken getropft war.
"Aber...ich verstehe trotzdem nicht ganz. Ernste Konsequenzen?", bohrte der Kater nach.
Reiherflügels Schultern sanken ein Stück nach unten.
"Rostpfote, du hast dein linkes Auge verloren."
Entsetzte Stille. Rostpfote sog scharf die Luft ein, schien jedoch seine Lungen nicht damit füllen zu können. Seine Pfote tastete über sein bandagiertes Gesicht und über den dicken Verband der sich über sein linkes Auge spannte. Aber es war nicht der Verband, der machte, dass er nicht sah. Rostpfote spürte, dass kein Auge darunter war, auch wenn so viele Lagen Spinnweben über der Wunde klebten.
"Nein", hauchte er ungläubig. Er wünschte sich, Reiherflügel hätte gelogen. Oder das alles nur ein schrecklicher Traum wäre, aber er wachte nicht auf. Der Schmerz in seinem Gesicht schwoll zu einem glühenden Stechen an, dass sich durch die Wunde in seinen Verstand bohrte, gedankenzerfetzend hell und brennend.
"Aber...aber du bist doch Heiler! Du musst doch etwas tun können!", klagte Rostpfote verzweifelt, am liebsten hätte er sich den Verband abgerissen um sich die Wunde anzusehen, aber seine Pfoten, ja nicht einmal seine Worte und Gedanken wollten ihm gehorchen.
Reiherflügel drückte ihn sanft zurück in sein Nest.
"Ich kann kein Auge heilen, dass nicht mehr da ist, genauso wenig, wie ich abgebrochene Zähne oder ein abgerissenes Ohr heilen kann."
Rostpfote spürte, wie sich die Tränen in ihm aufstauten.
"Kann ich dann überhaupt noch Krieger werden?", fragte er so leise, dass eine Brise seine Worte hätte wegtragen können
"Wenn du dich nicht vorher bei einer waghalsigen Aktion umbringst, dann ja. Junge Katzen wie du gewöhnen sich schnell an so etwas, aber dein Training könnte ein wenig länger dauern, weil du dich erst erholen musst", miaute der graue Kater und Rostpfote atmete erleichtert aus. Mit einem ein bisschen länger dauerndem Training konnte er leben.
"Ich habe jetzt aber eine Frage an dich, Rostpfote", fuhr Reiherflügel fort und sah ihn ernst an. "Ich hatte so sehr gehofft, dass du auch ohne einen schlimmen Zwischenfall etwas aus deinen Fehlern lernen wirst, aber meine Hoffnung wurde nicht erfüllt und nun sitzen wir hier. Und ich frage dich: Hast du etwas gelernt?"
Rostpfote wollte bereits mit einem Ja herausplatzen, als er sich selbst stillen Einhalt gebot. Hatte er denn etwas gelernt? Noch wusste er ja nicht einmal, wie schlimm er aussah, oder wie es sich mit nur einem Auge lebte. Er wusste nur, dass er Schmerzen hatte. Schmerzen, die er hätte verhindern können, wenn er vorsichtiger gewesen wäre.
Und was war mit seinen Freunden? Zum ersten Mal fiel ihm tatsächlich auf, wie viele gefährliche Aktionen er mit ihnen schon angefangen hatte, die mit Verletzungen geendet hatten. Der Sprung in die Stromschnellen, der Reiher, sogar der Ameisenhaufen! Wieso hatte er das vorher nicht gemerkt? Borkenpfote wäre beinahe von einem Felsen aufgespießt worden und er hatte noch darüber gescherzt, weil doch nichts passiert war. Aber es war beinahe etwas passiert. Er hatte einfach übergangen, dass seine beste Freundin fast gestorben oder zumindest schwer verletzt worden wäre.
Rostpfote erschauderte. Borkenpfote oder Drosselpfote oder Nebelpfote hätten hier mit schrecklichen Schmerzen liegen können...wegen ihm. Einer von ihnen hätte ernsthafte, vielleicht sogar bleibende Schäden davontragen können, wegen ihm.
Der Kater wusste nicht, ob er sich so etwas jemals verzeihen hätte können. Es war etwas anderes, wenn es nur ihn betraf. Reiherflügel hatte Recht, es war ganz allein seine Waghalsigkeit, die ihm das Auge gekostet hatte und Rostpfote wusste, dass er sich das irgenwann vergeben könnte. Aber bei Borkenpfote? Würde er sie jemals auch nur ansehen können, wenn sie seinetwegen erblindet wäre?
"Du denkst darüber nach. Das ist gut." Reiherflügel unterbrach den rasanten Strom an schuldbewussten Gedanken. Rostpfote sah zu ihm hinauf und war auf einmal ungeheuer dankbar.
"Ich habe etwas gelernt", miaute der orangefarbene Tigerkater. "Wenn ich...die Verantwortung für die möglichen Folgen nicht tragen kann...sollte ich die Pfoten davon lassen."
Reiherflügel schmunzelte.
"Sieht ganz so aus als würde ein Auge besser sehen als zwei. In die Zukunft zu sehen ist eine Sache für SternenClan-Katzen, aber vorrausschauend zu leben sollte jeder Katze ein Anliegen sein."
Rostpfote nickte, auch wenn es ihm wehtat.
"Ich werde nie wieder so etwas gefährliches machen", versprach er leise.
"Das will ich auch hoffen. Deine Mutter hat mir fast die Ohren abgerissen und du weißt ja jetzt, dass die nicht wieder anwachsen."
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