4. Die Wege des Schicksals
Es war ungewöhnlich dunkel und kalt, als Kitty aufwachte und sich blinzelnd umsah. Ihre gelben Augen konnten kaum etwas erfassen, bis auf einen schmalen Streifen schwaches Licht über ihr, der spärlich den cremefarbenen Pelz ihres leise schnarchenden Bruders beleuchtete. Der Boden unter ihren schmächtigen Pfoten war keineswegs das kuschelige Nest in das sie sich gestern Abend eingerollt hatte, im Gegenteil, es war hart und unbequem, und, wie Kitty nun bemerkte, feucht.
"Rex! Wach auf!", zischte sie ihren Bruder an, der mehrere Stupser brauchte, um endlich seine hellblauen Augen zu öffnen.
"Was ist denn?", murmelte er verschlafen und gähnte weit, doch er brauchte nicht lange, um die veränderte Umgebung zu bemerken. "Wo sind wir?", fragte er und blickte verwirrt hinauf zu dem Lichtstreifen.
"Ich weiß es nicht", gab das rauchgraue Junge zurück und versuchte, sich nicht anzumerken zu lassen, dass sie zitterte. Ihr Bauchfell war nass und sie fror, aber das war nicht der Grund für ihr Zittern. Es waren die Geräusche und Gerüche, die auf sie eindrangen. Das waren nicht die üblichen Laute mit denen sie umgeben waren, kein Geschirrklappern, kein Hundegebell. Stattdessen vernahm sie bloß Rauschen, das gedämpft durch den Spalt zu ihr drang. Es war fremd, nicht so schlimm wie die Maschine mit der Zweibeiner ihre Haarbälle wegsaugten, aber Kitty mochte es trotzdem nicht.
"Wo sind unsere Hausleute? Haben sie uns hier eingesperrt?", wisperte Rex weiter, während sie beide hinauf zu dem Lichtstreifen starrten. Es machte Kitty Angst, dass sie nicht wusste, was da draußen war...jedenfalls war es nicht das Haus, dass sie sich mit Rex, drei Zweibeinern und einem Hund teilte. Die junge Kätzin sah zu ihrem Bruder hinüber und erblickte die gleiche Ratlosigkeit und Furcht in seinen geweiteten Pupillen, die sie auch empfand. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und sie konnte vier ebenmäßige, braune Wände erkennen, die sie sofort wiedererkannte. Sie hatte hier mit Rex gespielt, das war eine Box aus Karton! Nur war die Box bei ihrem Spiel mit der Öffnung auf der Seite gelegen, weil sie niemals über den Rand hätten springen können. Es war genug Platz um bequem zu raufen, aber plötzlich kam sich Kitty sehr beengt vor.
"Vielleicht war es nur ein Versehen", versuchte sie sich an einer Erklärung und leckte sich über die kalten, nassen Pfoten. "Wenn wir uns bemerkbar machen holen sie uns bestimmt raus."
Rex nickte, rappelte sich auf und begann mit seiner Schwester laut zu maunzen, aber egal wie sehr sie sich auch anstrengten, das Rauschen schien sie wohl zu übertönen. Schließlich ließ Rex enttäuscht den Kopf hängen.
"Mir ist kalt. Und hungrig bin ich auch", klagte er und plusterte sein langes, cremefarbenes Fell auf bis er aussah wie eine Klobürste.
"Ich auch", gab die kleine Kätzin zu und drückte sich an ihren Bruder. Sie konnte sich nicht erklären, was geschehen war. Gestern war noch alles ganz normal gewesen, sie hatten in den Box und auf der Couch raufen und fangen gespielt, Fiona den Hund geärgert und die Schnüre der Vorhänge gejagt. Nichts ungewöhnliches. Kitty hatte Rex sogar wie jeden Abend bei seiner Runde im Haus begeleitet, da er darauf bestand, jedes Zimmer mindestens zwei Mal zu markieren, falls irgendjemand mal glauben sollte, er könnte sich ohne Erlaubnis dort einnisten. "Glaubst du, wir haben etwas falsch gemacht?", fragte Kitty verunsichert. Sie wusste, dass die Menschen Fiona manchmal einsperrten, wenn sie zu viel bellte oder etwas mit ihrem großen, wolligen Körper umgeworfen hatte, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass sie oder ihr Bruder gestern etwas kaputt gemacht hätten.
"Ich weiß es nicht. Aber wir müssen hier raus, wenn wir es herausfinden wollen", vermutete der cremefarbene Kater und fixierte die verkantete Decke der Box, bevor er mit einer Sprung versuchte, diese aufzustoßen. Leider bewegten sie sich nur ein kleines Stück nach oben und Rex fiel unsanft auf sein Hinterteil. "Ganz schön fest zu."
Da kam Kitty eine Idee.
"Vielleicht könnten wir die Kiste umwerfen? Das hat beim Spielen auch geklappt, weißt du noch? Wir müssen uns nur gleichzeitig gegen eine Seite werfen und-"
Plötzlich wurde die kleine Kätzin von einem unglaublich lauten Röhren unterbrochen. Der Boden vibrierte, alles dröhnte so sehr, dass Kitty sich die Ohren zupressen musste. Sie kannte dieses Geräusch, aber bloß aus der Ferne.
"Was war das?", keuchte Rex erschrocken, er hatte sich in eine Ecke gepresst und sein Nackenfell stand hoch.
"Ich glaube, das war ein Monster. Es muss direkt an uns vorbeigefahren sein", sagte die blaugraue Kätzin mit zittriger Stimme. Sie beide waren schon einmal per Monster gereist, als sie in ihr neues Zuhause eingezogen waren, aber seitdem nicht mehr. Sie konnte sich allerdings nicht erinnern, dass es dermaßen laut gewesen war.
"Ich will nicht warten, bis noch eines kommt. Lass uns das Ding umwerfen", entschied der flauschige Kater neben Kitty und deutete auf die Wand, die ihnen gegenüber lag. Sie nickte und stolperte gemeinsam mit ihrem Bruder dagegen, bis sie erleichtert bemerkte, dass sie sich bewegte. Ganz langsam kippte die Box ein Stück um, sogar der Lichtspalt öffnete sich ein bisschen mehr. Doch leider war es nicht genug. Selbst mit Krallen kam sie die starke Steigung nicht hoch genug, um den Deckel aufzudrücken.
"Und was machen wir jetzt?", fragte Rex mit einem verzweifelten Unterton. "Ich will nach Hause", fügte er leiser hinzu und auch Kitty musste zugeben, dass es ihr, wo auch immer sie auch waren, zu kalt, nass und futterlos war. Ihr Magen krachte leise bei dem Gedanken an etwas zu essen, aber in dieser Box gab es nichts außer einen leichten Wind, der den Geruch nach nassem Gras hereintrug.
"Wir müssen es weiter versuchen", probierte sie ihren Bruder zu überzeugen und wagte es erneut, ihre Krallen in das nachgiebige Material zu bohren, in dem Versuch, sich daran hochzuziehen. Unten war das einfacher, weil es ein bisschen aufgeweicht war, aber je höher es ging, desto fester wurde der Karton und sie rutschte schließlich ab, noch bevor sie die Decke überhaupt berühren hatte können. "So funktioniert das nicht", fauchte sie frustriert.
"Vielleicht können wir es gemeinsam bis nach oben schaffen?", schlug Rex vor und ließ Kitty auf seinen Rücken klettern. Beide streckten sich, so sehr sie konnten und die Kätzin grub ihre Krallen ungewollt viel zu sehr in die Haut ihres Bruders, aber es reichte gerade so aus. Kitty presste die Vorderpfoten so fest gegen die verkantete Kartonstücke, wie sie nur konnte. Es machte ein knackenden Geräusch, als sie auseinandersprangen und plötzlich gleißendes Licht hereinließen. Durch den verschwundenen Widerstand verlor Kitty jedoch den Halt und purzelte über Rex wieder zurück in die Kiste.
Eine kalte Brise wehte in die Box hinein und brachte noch viel mehr fremde Gerüche mit, als nur den von Gras. Endlich konnten die beiden sehen, was das Rauschen verursachte. Zwar konnten sie nur die Kronen erkennen, aber es waren Bäume. So viele Bäume, die ihre braunen, raschelnden Blätter im Wind gegeneinander schlugen und über ihnen spannte sich ein von hellgrauen Wolken gänzlich überzogener Himmel, so hell, dass es zunächst wehtat, nach oben zu schauen.
"Wo sind wir? Das sieht nicht aus wie unser Garten", miaute Rex, der Erfolg über die geöffnete Klappe verflog schnell, weil sie immer noch nicht rauskamen.
"Das sind viele Bäume. Hat der alte Max nicht einmal etwas von einem Wald erzählt, wo viele Bäume stehen?", erinnerte sich Kitty, doch die Erzählung war nur vage vorhanden. Sie wusste nur noch von einigen Waldtieren, von denen Max schwor, er hätte sie alle schon einmal gefangen.
"Keine Ahnung", gab Rex zurück. "Aber selbst wenn, ich will nicht in einem Wald sein. Ich will nach Hause!", jammerte er sprang immer und immer wieder an der Kartonwand hinauf, nur um immer wieder daran herunterzurutschen.
"Das bringt doch nichts", miaute die graue Kätzin, die Distanz war zu groß für zwei solch junge Kätzchen wie sie und ihren Bruder.
Plötzlich hielt Rex jedoch inne.
"Hörst du das?"
"Was denn?"
Sofort lauschte Kitty. Das Rauschen der Blätter im Wind war zunächst das einzige, was sie hörte, doch dann erkannte sie es. Stimmen! Da waren eindeutig Stimmen, und die gar nicht mal so weit weg.
"Riecht ihr das? Es stinkt nach Zweibeinern", hörte Kitty eine der Stimmen verächtlich miauen.
"Woher willst du denn wissen, wie Zweibeiner riechen?", ätzte eine andere, weibliche Stimme.
"Weil ich mit Donnersee schon beim Zweibeinerort war, du Schlaubeere."
"Hört auf mit dem Gezanke, ihr beiden", mischte sich nun eine dritte Stimme mit ein. Sie klang älter als die ersten beiden. "Es ist nicht ungewöhnlich, dass es in der Nähe eines Donnerwegs nach Zweibeinern riecht."
"He, was ist denn das da?", rief die weibliche Stimme plötzlich und Kitty spürte, dass neben der Box jemand gelandet war, der sie anstupste und die Kiste wieder in die ursprüngliche Position brachte, bevor die Jungen sie umgeworfen hatten.
Rex, der sich an der Wand aufgestellt hatte, um besser zu hören, wurde unsanft nach hinten geworden.
"He!", beschwerte er sich lautstark und schüttelte sich, doch Kitty war zu erschrocken, um ihn zu fragen, ob er sich verletzt hatte. In der Öffnung der Box schwebte ein grauer Katzenkopf, der ebenso erschrocken zurückblickte.
Ängstlich wich Kitty zurück und drückte Rex mit sich an die hinterste Wand. Die graue Kätzin musste noch recht jung sein, sie hatte abgerundete Ohren und Augen, die in einem kräftigen Grün leuchteten.
"Was ist denn da drin?", fragte die männliche Stimme, bevor sich eine weitere Katze neben die Graue drängte, diesmal ein Kater mit sandbraun getigertem Fell, der etwas älter schien, als die Kätzin.
"Da sind ja Junge drin", posaunte die graue Kätzin schließlich heraus, als hätte sie einen Moment gebraucht um zu realisieren, was sie gesehen hatte.
"Junge?" Nun gesellte sich auch die dritte Katze hinzu. Wenn Kitty den Platz gehabt hätte, wäre sie vor Schreck noch weiter nach hinten gesprungen, aber alles was sie tun konnte, war, sich an die Wand zu drücken und Rex dabei in die Seite zu treten. Der Kater, der dazugekommen war, war enorm groß, hatte einen breiten Kopf und strähniges, hellgraues Fell, welches an manchen Stellen von Narben unterbrochen war. Doch das seltsamste waren seine Augen. Eines war blau, das andere braun und keines der beiden sah erfreut aus.
"Sind das Hauskätzchen? Sie sehen nicht aus wie welche. Vielleicht sind es ja Streuner, sie haben keine Halsbänder", vermutete der hellbraune Tigerkater, was Rex ein leises Knurren entlockte.
"Wir können euch hören!", rief er und versuchte, sich größer zu machen, aber gegenüber jedem von den dreien hätte er lachhaft winzig gewirkt. Kitty fiel jedoch etwas anderes auf. Ungläubig tastete sie mit der Vorderpfote an ihren Hals. Es war weg. Schnell wirbelte sie zu Rex herum, doch auch sein Halsband war verschwunden. Ihnen war beigebracht worden, dass sie Halsbänder tragen mussten, damit sie, falls sie verloren gingen, wieder nach Hause gebracht werden konnten, aber ohne sie würden sie nie mehr wieder zurückfinden!
Der massive, graue Kater neigte entschuldigend den Kopf, was so gar nicht zu seiner Erscheinung passte.
"Das tut uns leid. Ich nehme an, es war nicht euer Ziel, hier zu landen?", fragte der Kater nach und erntete zwei energische Kopfschütteln. "Dann holen wir euch besser mal da raus, bevor ihr noch erfriert. Muschelpfote, Farnpfote, packt mal mit an", befahl er den anderen beiden, die sogleich ihre Zähne in den Karton gruben und zu ziehen begannen. Es ging leicht bergauf und die Kiste neigte sich immer weiter Richtung Boden, bis sie schließlich waagerecht aufkam und die Geschwister endlich herauskonnten.
Kaltes, nasses Gras kitzelte Kitty zwischen den Zehen und der Wind begann sofort an ihrem Fell zu zerren. Sie sah sich um, konnte aber nicht einen Hinweis darauf entdecken, wo sie sich befanden, oder wie sie wieder nach Hause kommen könnten. Rex schüttelte sich neben ihr ausgiebig, bevor er die drei Katzen misstrauisch musterte.
"Wer seid ihr?", fragte er schließlich.
"Eigentlich sollten wir das euch fragen", gab der Getigerte zurück und erntete von dem älteren einen scharfen Blick.
"Ich bin Felsenkralle, das sind Muschelpfote und Farnpfote. Wir sind Mitglieder des SumpfClans, der in diesem Gebiet lebt", antwortete der Hellgraue.
"SumpfClan? Nie gehört", murmelte Rex und schien sich zu überlegen, ob er nicht doch lieber wieder in den Karton kriechen wollte.
Kitty schluckte. Sie hatte noch nie so muskulöse Katzen gesehen, jeder der drei hatte eine gut trainierte Statur und scharfe Krallen, aber sie sahen nicht wütend aus, dass sie mit ihrem Bruder hier offensichtlich eingedrungen war.
"Könnt ihr uns nach Hause bringen?", fragte Kitty und versuchte, das Zittern ihre Stimme zu verbergen, aber es gelang ihr nicht.
"Wo wohnt ihr denn?"
"Im Zweibeinerort", kam es wie aus einem Mund zurück.
Felsenkralle legte den Kopf schief.
"Der Zweibeinerort ist groß. Wisst ihr, wo genau?"
Kitty sah zu ihrem Bruder, ratlos. Sie wussten es beide nicht. Alles, was sie je zu sehen bekommen hatten war das Innere des Hauses, den Garten und den Nachbarskater.
Traurig schüttelte die Kätzin den Kopf, die Aussichten, ihr Zuhause wiederzusehen schrumpften mit jedem Moment weiter. Sie waren orientierungslos, kalt, hungrig und nass, umgeben von drei Fremden, die ihnen nicht helfen konnten und ohne einen Platz zum Bleiben.
Sind wir jetzt Streuner, fragte sich die Kätzin, bei dem Wort stellte sich ihr das Rückenfell auf. Von Streunern hatte sie nur schlechtes gehört, zum Beispiel, dass sie Katzen ihre Beute wegnahmen, ihren Fressnapf heimlich leerten oder andere grundlos attackierten. Sie wollte nicht in einer Welt leben, wo sie jeden Moment einen Angriff fürchten oder stehlen musste.
"Wisst ihr was, wir finden das schon raus", versprach der hellgraue Kater. "Aber bis dahin werdet ihr etwas zu essen und einen Schlafplatz brauchen. Wenn ihr wollt, dann dürft ihr für ein paar Tage bei uns bleiben, bis wir euer Zuhause für euch gefunden haben."
Wenn Kitty mit sich selbst ehrlich war, dann hörte sich das fantastisch an, aber sie war trotzdem misstrauisch. Sie kannte diese Katzen nicht, sie wusste nicht, ob ihnen zu trauen war, oder ob sie eigentlich nur Streuner waren, die sich unter einem anderen Namen, dem SumpfClan, tarnten, aber im Endeffekt blieben ihr und ihrem Bruder nichts anderes übrig, sie gingen mit den drei geheimnisvollen Katzen.
Und es war gut so, denn das Schicksal hatte es so in die Wege geleitet.
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