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12. 𝘑𝘶𝘭𝘪
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Mit dem Abend schien die Hitze des Tages sich noch einmal über die Stadt zu legen wie eine dicke Daunendecke. Obwohl die Sonne für heute ihre Schicht beendet hatte, wirkte die Intensität ihrer Strahlen noch nach, denn die Luft war lau und warm. Sommerlich bekleidet in einer weinroten Bermudashorts und einem blütenweißen T-Shirt schlenderte Noël über die Wiese des Volksparks Hasenheide und hielt Ausschau nach einem freien Plätzchen, wo er in Ruhe den stressigen Tag ausklingen lassen wollte.
Durch seine Sonnenbrille sah die ganze Welt irgendwie wärmer und gemütlicher aus. Noël trug sie gerne, weil er dadurch das Gefühl hatte, alles durch einen Filter zu sehen. Die Umgebung wirkte etwas surreal, das Gras erschien in dumpfem Grün und auch der Himmel sah aus, als habe man Cappuccino darauf verschüttet.
Auf dem Rücken trug Noël seinen Rucksack. Dasselbe mittlerweile richtig abgewetzte Ding, mit dem er auch zur Uni ging. Ein treuer Gefährte durch dick und dünn, wobei dünn auf den Stoff nun am ehesten zutraf. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis endlich einmal der Boden des Rucksacks aufriss und Noëls Studienbücher krachend herauspurzeln würden. In der Nähe eines Mülleimers entdeckte der junge Mann schließlich viel freie Fläche, rümpfte aber bei dem Gedanken an die darin liegenden Abfälle die Nase.
Er hatte sich ein paar Snacks mitgenommen und die würde er sicher nicht neben abgestandenen Milchshakes und schimmelndem Nachodip essen. Frustriert lief er weiter. Abends war der Park wirklich gut besucht und Noël hatte noch keinen guten Platz gefunden, an dem er einigermaßen ungestört liegen konnte. Zwischen plappernden Freundesgruppen und knutschenden Pärchen zu sitzen war nach dem langen Unitag nicht unbedingt Noëls Traumvorstellung.
Zu seinem Glück entdeckte er unter einer altehrwürdigen Erle einen schönen Platz, an dem er sich niederlassen konnte. Noël zog die zusammengefaltete Picknickdecke aus seinem Rucksack und breitete sie aus. Das Ding war schon recht alt, es konnte gut sein, dass Noël noch in Windeln und mit der Rassel in der Hand auf ihr gesessen hatte. Bei dem Gedanken musste er unweigerlich lächeln. Fürs Wochenende hatten sich seine Mutter und Finja angekündigt. Vielleicht würden sie alle drei hierher kommen.
Mit dem wohligen Gedanken streckte Noël sich wohlig auf der Decke aus. Eingelullt von den warmen Temperaturen und dem verhaltenen Zirpen von Grillen döste er schneller ein, als ihm lieb war.
„Ich habe die Zielperson entdeckt." Etwa fünfhundert Meter Luftlinie von dem schlafenden Studenten entfernt stand ein Mann auf dem kiesbedeckten Flachdach eines neugebauten Hochhauses, das an den Park grenzte. In der Höhe war es ganz schön zugig, weswegen seine schulterlangen braunen Haare im leichten Wind flatterten. Grüne Augen spähten durch ein Fernglas und fixierten den jungen dunkelhaarigen Mann wie ein gelbes Adlerauge seine Beute.
„Bist du sicher?", fragte eine raue Frauenstimme neben ihm. Jenny Maurer und ihr junger Kollege Marius Eckelmann hatten den Kerl schon seit einigen Tagen im Visier gehabt, nämlich seitdem er ihnen endlich auf den Radar erschienen war. Ziemlich schlau, wie er sich in letzter Zeit als Student tarnte und sogar die Uni besuchte.
Ob er sich nun eine Immatrikulationsbescheinigung gefaket hatte oder einfach in die Seminare spazierte, das wussten Maurer und Eckelmann nicht. Aber eins war sicher: Noch heute würde der Betrüger dingfest gemacht werden.
„Schau ihn dir doch an!", raunzte Marius seine Kollegin an. Diese warf schwungvoll ihre langen schwarzen Haare über die Schulter und verdrehte genervt die Augen. Sie griff in die Innentasche ihrer Lederjacke, doch noch bevor sie das silberne Etui öffnen konnte, intervenierte ihr Kollege.
„Du fängst hier jetzt bitte nicht an zu rauchen, ja? Ich kann mich bei dem Qualm nicht konzentrieren", fauchte er.
„Alles klar, Chef." Postwendend wanderte das Etui wieder zurück.
„Kurze schwarze Haare, groß, schlank - das ist unser Mann", sagte Eckelmann und beobachtete die Zielperson weiterhin durch das Fernglas.
„Okay, na gut. Er hat eine Sonnenbrille auf. Die verdeckt gefühlt sein halbes Gesicht. Wie willst du so die Physiognomie feststellen?", lenkte Maurer ein. Sie wollte die Sache endlich zu einem Ende bringen und eine Zigarette rauchen.
„Ich brauche sein Gesicht doch gar nicht in allen Einzelheiten zu sehen. Er ist es. Da bin ich mir absolut sicher. Das ist Chris Miller. Das - ist - unser - Mann!"
Die Euphorie in Eckelmanns Stimme blieb Jenny Maurer nicht verborgen. Sie war ein alter Hase in dem Metier, aber Marius war neu im Geschäft und noch grün hinter den Ohren. Wenn er so voreilig handelte, würde aus ihm nie ein guter Privatermittler werden. Die Zielperson richtete sich auf den Unterarmen auf und blickte verdattert um sich.
„Wenn er jetzt aufsteht, dann folgen wir ihm. Mann, Jenny, der Kerl betreibt Betrug im großen Stil! Es hat bis jetzt immer funktioniert. Bisher gibt es nicht einen stichhaltigen Beweis, mit dem man ihn endlich vor Gericht zerren könnte. Er hat alles komplett sauber erledigt. Aber so unschuldig wie er aussieht, ist er nicht! Und wenn uns nicht seine Ex-Freundin auf ihn angesetzt hätte, dann..."
Jenny unterbrach Marius mit einer schneidenden Handbewegung. So langsam ging er ihr ganz schön auf die Nerven. Beleidigt schaute er sie an, hielt aber endlich den Mund. Die Ex-Freundin von Chris Miller hatte aufgrund verschiedener Vorkommnisse Verdacht geschöpft. Vor Gericht käme sie mit ihren vagen Beobachtungen nicht durch, da sie keine eindeutigen Beweise hatte. Daher waren die beiden Privatermittler von ihr beauftragt worden, weiter nachzuforschen.
Und tatsächlich! Sie hatten in der letzten Zeit eben doch einige Spuren entdeckt, die Miller übersehen hatte. Wahrscheinlich hatte ihn sein Erfolg nachlässig gemacht. Er wiegte sich in Sicherheit, nicht entdeckt zu werden, war sich absolut sicher, dass nicht einmal seine Ex den Hauch einer Ahnung hatte.
Gestern waren Jenny Fotos zugespielt worden, die zeigten, wie Chris mit einem Rucksack voll Geld aus einem Hinterhof spaziert war. Der Typ hier im Park hatte große Ähnlichkeit zu Chris, aber irgendetwas sagte Jenny, dass er es nicht sein konnte. Hatte er den Rucksack mit der ganzen Kohle etwa mit in den Park genommen? Chris war unvorsichtig geworden, ja, aber das hier grenzte an Torheit. Oder... war das vielleicht eine Falle? Wusste er, dass Maurer und Eckelmann hinter ihm her waren?
„Schau, er trinkt nur einen Schluck. Der sieht nicht so aus, als würde er in nächster Zeit weggehen. Aber ich bin immer noch der Meinung, dass das nicht Chris Miller ist", entgegnete Jenny.
Marius hob abwehrend die Hände. „Gut. Gut, dann reißen wir unsere Zelte ab und verziehen uns. Aber ich will kein Geheule hören, wenn unsere Auftraggeberin..."
„Lass gut sein", schnaufte Jenny und lief über das Dach. Unter ihren Sneakers knirschten die kleinen grauen Kieselsteine. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, diesen vorlauten Grünschnabel ins Team zu holen? Sie hatte Unterstützung gebraucht, aber dieser Kerl war wie ein Klotz am Bein. Nicht nur, dass er gemeint hatte, ihren Schreibtisch ‚sortieren' zu müssen. Nein! Erst gestern hatte er wichtige Unterlagen durch den Aktenvernichter gejagt.
„Hey, Jenny! Warte doch!", rief er.
Unten auf der Wiese lag Noël ganz friedlich da. Naja, nicht ganz so friedlich. Immer wieder schwirrte ihm eine Fliege um den Kopf und Durst bekam er auch. Zu allem Übel war seine Trinkflasche nun leer und ein drückendes Kopfweh schlich sich an. Seine Mutter hatte ihn immer ermahnt, im Sommer ja viel zu trinken. Aus gutem Grund, wie er jetzt feststellte.
„Irgendwie will das mit dem Entspannen nicht so recht funktionieren", murmelte Noël zu sich selbst. Er nahm sich die Sonnenbrille ab und ließ seinen nun ungefilterten Blick über den Park schweifen. Eine Gruppe Jugendlicher saß etwas abseits. Sie tranken Limonade aus Glasflaschen, an denen das Kondenswasser herunterperlte. Hmmm... bei dem Anblick der vielen gekühlten Getränke ließ Noël das Wasser im Mund zusammen. Mit Freude sah er, dass die Gruppe eine große Kühltasche dabei hatte. Vielleicht lagerten dort drin noch viel mehr Getränke? Oh, vielleicht würde er einfach rübergehen und fragen, ob er auch etwas zu trinken haben könnte.
„Keine Bewegung!" Der Ruf ließ Jenny Maurer und Marius Eckelmann zusammenzucken. Eine junge Polizistin war die Treppe aufs Dach heraufgekommen.
„Auch das noch ...", schnaufte Jenny. Hinter der Polizistin folgte ein weiterer Polizeibeamter. „Hey, hey, wir sind im selben Team! Mein Kollege und ich, wir sind Privatdetektive", beschwichtigte Jenny. Die beiden Beamten schauten sich gegenseitig an. Jenny ahnte, jetzt würde es eine Menge Überzeugungsarbeit zu leisten geben.
„Klar, darfst du", erwiderte der blonde Junge und deutete einladend auf die Kühltasche.
„Vielen, vielen Dank! Genau das brauche ich jetzt!", seufzte Noël erleichtert und griff nach einer Holunderlimonade. Es zischte verführerisch, als er den Deckel aufdrehte und er fröstelte leicht, als die herrliche Flüssigkeit seine Kehle hinablief.
„Setz dich doch zu uns, wenn du magst", schlug der Blonde vor. Zwar fühlte Noël sich recht schläfrig nach dem langen Tag, aber dann überlegte er, dass gegen ein bisschen nette Gesellschaft nichts einzuwenden war. Genügend Snacks hatte er auch dabei, so konnte er sich für das wundervoll kühle Getränk revanchieren. Eilig lief er zu seinem Lager und stopfte die Picknickdecke wieder in den Rucksack. Die Nähe ächzten verhängnisvoll und Noël ahnte, was er als nächstes einkaufen gehen würde.
„Nein!"
Es fuhr Marius Eckelmann durch Mark und Bein, als er mit seiner Kollegin vor der Erle stand, unter der Chris Miller sich in törichter Sicherheit wiegend niedergelassen hatte. Nun, ganz so dumm war er doch nicht gewesen, denn er hatte sich wieder einmal nahezu in Luft aufgelöst. „Und schon wieder ist er uns durch die Lappen gegangen", raunte Jenny und atmete schnaubend aus.
„Der Kerl ist wie ein Geist. Und ich dachte schon..."
„... dass es dieses Mal klappen würde?", beendete Jenny seinen Satz.
„Lass uns wenigstens nach Spuren suchen. Vielleicht liegt hier noch etwas, das ihm aus der Tasche gefallen ist. Er muss uns bemerkt haben und Hals über Kopf abgehauen sein. Vielleicht hat er etwas verloren. Jeder macht mal Fehler", schlug Marius wenig überzeugt vor.
„Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, dass ich nach Hause gehe", beschloss Noël und verabschiedete sich von der netten Gruppe, die er heute kennengelernt hatte.
„Alles klar, Mann! Vielleicht sehen wir uns die Woche noch", entgegnete der blonde Junge und hob die Hand zum Abschied. Noël schulterte seinen Rucksack und warf einen letzten Blick auf die Stelle unter der Erle. Die war wohl nicht mehr frei... oder doch? Ein Mann und eine Frau liefen mit gesenkten Köpfen suchend hin und her. Hatten sie etwas verloren? Oder war Noël vielleicht etwas aus der Tasche gefallen? Sie waren so sehr in ihre Suche vertieft, dass sie nichts um sich herum wahrzunehmen schienen.
Noël wollte zu ihnen gehen, da meldete sich sein Handy. Es war Finja. Sie rief ihn am Abend immer an. Noël zuckte mit den Schultern und wandte sich von den beiden Suchenden ab. Er nahm den Anruf an. „Finja, schön dich zu hören!" Auf dem ganzen Heimweg telefonierte er mit seiner kleinen Schwester und die beiden eigenartigen Parkbesucher hatte er bald vergessen.
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Verpasst 𝘷𝘰𝘯 stilusstory
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Sonnige Grüße
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